9. April 2024. Fortsetzung: Nach einer Woche auf dem Trek haben wir Namche Basar erreicht. Wenn man in tibetisch geprägte Orte kommt, führt der Weg oft durch ein Khagan Chörten. Das ist ein bunt dekorierter Tordurchgang mit kunstvoll bemalter Decke und aufgereihten Gebetsmühlen an den Seitenwänden. Beim Durchgehen werden Besucher von bösen Geistern und Dämonen gereinigt. Der alte, weiße Stupa sowie das Kloster von Namche gehen in der bunten Menge an Gasthäusern, Shops, Restaurants und sogar einem Irish Pub etwas unter. Alles, was es in Namche Basar gibt, haben irgendwann Träger oder Tiere mühsam die Berge hochgeschleppt. Wenn das Wetter gut ist, kommen auch Helikopter zum Einsatz, um zum Beispiel Baumaterial zu transportieren. Letztes Jahr hat Lhakpa Sonam Sherpa, Fotograf und engagierter Experte seiner Volkskultur, ein spannendes Sherpa- und Bergsteigermuseum auf dem einstigen Zeltplatz damaliger Everest-Pioniere eröffnet. Es wurde unter anderen von Reinhold Messner unterstützt und eingeweiht.
Namche Basar liegt auf 3.440 Metern und der Luftdruck beträgt nur noch 63 Prozent. Dementsprechend weniger Sauerstoff enthält die Menge an Luft, die in unsere Lungen passt. Bergauf zu laufen wird spürbar anstrengender und wir kommen schneller aus der Puste. Um sich auf den Sauerstoffmangel einzustellen, braucht der Körper etwas Zeit. Dabei ist wichtig, dass wir viel trinken, um das Blut flüssig zu halten. Ansonsten ist es sehr wahrscheinlich, höhenkrank zu werden – mit Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit. Wenn sich Ödeme bilden, kann das schnell lebensbedrohlich werden. Zur besseren Akklimatisierung bleiben wir daher einen weiteren Tag in Namche und machen einen Ausflug nach Khumjung bis auf fast 4.000 Meter Höhe. Zum ersten Mal tauchen der Everest, Lhotse und Ama Dablam am Horizont auf.
Micha hat die beiden Nächte in Namche leider schlecht geschlafen. Nach drei, vier Stunden wurde er wach, weil er immer wieder nach Luft schnappen musste und quälte sich danach nur noch durch einen Halbschlaf. Schlafstörungen in hohen Bergen sind normal und bei Micha wird es noch viele Nächte so bleiben. Sobald allerdings die aufgehende Sonne die Bergspitzen zum Leuchten bringt, schießt ihm das Adrenalin ins Blut und er ist hellwach. Ich dagegen habe keine Schlafprobleme. Allerdings fliegt mir eine winzige Daune ins linke Auge, als ich morgens unsere Schlafsäcke einpacke. Ich spüle mein Auge mehrmals mit Wasser aus, aber schaffe es nicht, das piekende Ding loszuwerden. Vielleicht beruhigt sich alles im Laufe des Tages. Wir machen uns also auf den Weg nach Tengboche (3.860 Meter), wo sich das wichtigste und größte Kloster der Khumbu-Region befindet: der Dawa Choling Gompa. Fünfzig Mönche sollen dort dauerhaft leben. Als wir am frühen Nachmittag in Tengboche ankommen, durchwandert eine Ameisenstraße an Trekkern die kleine Siedlung. Das sandige Plateau ist umring von einem wundervollen Bergpanorama. Wir konnten gerade noch ein Zimmer auftreiben, leider etwas dunkel und kalt wie ein Eisschrank. Im schmalen Flur der Lodge stehen ausgelatschte, staubige Wanderschuhe vor den Zimmertüren. Es stinkt stark nach Käsefuß, ungewaschenen Körpern und nach der Toilette – obwohl man in der Höhe schlechter riechen kann. Im großen Gastraum der Lodge ist es dagegen abends sehr gemütlich und die Gäste sind gut gelaunt. Die Hälfte hat ihre Wanderung schon hinter sich und macht sich morgen auf den Rückweg. Mein Augenlid mit der Daune ist angeschwollen und andere Gäste geben mir Augentropfen und -salbe. Leider wird es noch mindestens zehn Tage dauern, bis ich das Problem endlich los bin.
Im nächsten Dorf Dingboche (4.410 Meter) scheint die Sonne durch die staubige und eingerissene Fensterscheibe in unsere kleine Kammer. Die Bergwände, auf die man schaut, werden immer gewaltiger. Am nächsten Morgen kraxeln wir um sieben Uhr mit Saurav mehrere hundert Höhenmeter auf den Nangkartshang Peak. Der Berg ist mit dunkelbraunen Flechten und staubiger Erde überzogen. Geduldig nähern wir uns der felsigen Spitze. Wir sehen mehrere Adler, wie sie durch die kalte Luft gleiten, und schauen immer wieder hinüber auf die schöne Pyramide des Ama Dablam. Viele Bergsteiger finden, dieser Sechstausender sei der schönste aller Berge im Himalaja. Das Wort, was Saurav heute am meisten von uns hört, lautet Wahnsinn.
Oben am Peak angekommen befinden wir uns zum ersten Mal auf 5.000 Metern. In dieser Höhe atmen wir nur noch die Hälfte an Sauerstoff ein. Vielleicht ist das auch ein bisschen der Grund für die Euphorie, die aufkommt, als wir den Aufstieg nach drei Stunden hinter uns haben. Wir fühlen uns gut und genießen stolz den weiten Blick über die Berglandschaft, das tiefe Tal und die bunten Blechdächer von Dingboche. Von hier oben ist es zu einem Miniaturdorf zusammengeschrumpft. Als wir mittags wieder zurück in unserer kleinen Felssteinlodge sind, will ich mir unbedingt das Fett aus meinen Haaren waschen, aber das Wasser aus dem Schlauch ist eisig. Für 300 Rupien (ca. zwei Euro) bekomme ich einen Eimer warmes Wasser. Es kommt aus einem Kessel, der draußen über einer silberglänzenden Satellitenschüssel steht – ein Parabol-Reflektor, der das Sonnenlicht bündelt und so das Wasser erhitzt. Frisch gewaschen genießen Micha und ich danach einen Teller Dal Bhat, der solange nachgefüllt wird, bis man satt ist. Es heißt eigentlich, der Appetit lasse nach in der Höhe. Nicht bei uns. Nachmittags schweben wie so oft plötzlich dichte Wolkenfelder durch die Berge und es fällt sogar etwas Schnee. Als wir am nächsten Morgen durch das leicht ansteigende Flusstal nach Chukung weiterlaufen, glitzert die weiße zarte Schicht auf der frostigen Winterlandschaft.
In Chukung (4.730 Meter) scheint die Sonne und die grauen Steinplatten vor der Lodge sind so warm, dass wir barfuß darauf laufen. Die Gipfel bei Chukung haben scharfe Kanten und Zacken. Der Blick auf die massiven Steinwände kann einen regelrecht einschüchtern. Wir kommen uns jedenfalls winzig vor, als wir nach dem Mittagessen zur besseren Anpassung an die dünne Luft noch dem Chukung Peak entgegenlaufen. Es ist leicht nachzuvollziehen, warum die Nepalesen ihre Berge als Wohnstätte der Götter verehren und ihnen großen Respekt entgegenbringen.
Beim Abendessen habe ich dann erstmals keinen Appetit. Ich bin nervös, denn morgen an Tag 12 unserer Wanderung steht der erste von drei Fünftausenderpässen bevor: der Kongma La. Es ist gleichzeitig der allerhöchste Pass der Tour, mit schmalem und steinigen Kamm auf 5.535 Metern. Das sind 171 Meter mehr als beim Basislager am Mount Everest. Mir schießen plötzlich Zweifel durch den Kopf, ob wir die Pässe wirklich schaffen. Aber die kann ich genauso schnell beiseite schieben. Ich muss öfter an Worte von Reinhold Messner denken, von dessen Lebenseinstellung und Lebensleistung Micha und ich sehr beeindruckt sind. Er stand 1978 – in dem Jahr, als ich zur Welt kam – zusammen mit Peter Habeler als erster Bergsteiger ohne Sauerstoffgerät auf dem Mount Everest, obwohl Mediziner das für unmöglich hielten. Messner kannte seine besondere Stärke, und vor allem seine Schwächen. Er hatte es einfach gewagt. Abends im Bett liest mir Micha ab und zu aus einem seiner Bücher vor. Es handelt davon, wie ihm zwei Jahre später als Erster auch die Alleinbesteigung des Everest gelang – wieder ohne Sauerstoff und diesmal von tibetischer Seite. Messner beschreibt darin auch, das er selbst etwa sieben Wochen brauche, um sich auf einer Höhe von 5.000 Metern vollständig zu akklimatisieren.
Als wir früh um vier Uhr aufstehen, habe ich ein sehr nervöses Gefühl in meinem Bauch. Mein Herz pocht. Ich bin froh, wenn wir endlich losgehen, denn erst dann wird sich meine Anspannung lösen. Ich stochere mit dem Löffel im Porridge herum und versuche, etwas zu essen. Um halb sechs stiefeln Micha, Saurav und ich dann endlich los. Es wird langsam hell draußen und vor uns liegt ein langer Aufstieg über Hügel, steinige Wege und einige steile Abschnitte. Micha und ich bewegen uns bald nur noch wie in Zeitlupe vorwärts, etwa zwanzig Schritte bis zur nächsten Atempause. Saurav hat dagegen überhaupt keine Probleme mit der dünnen Luft.
Kurz vor dem Pass müssen wir etwas klettern, was überhaupt nicht mein Fall ist. Dann sind wir endlich am schmalen Grat mit den bunten Gebetsfahnen angekommen. Es sind noch ein paar andere Leute hier oben und man hat nicht viel Platz zum Hinsetzen. Auf der anderen Passseite geht es steil abwärts. Der Ausblick ist natürlich unfassbar, aber statt euphorisch zu grinsen, wirkt Micha etwas angespannt. Seine ersten Worte sind: Oh Gott, wie kommen wir da wieder runter?
Nach einer Weile auf dem Pass wird mir etwas schlecht und ich möchte absteigen. Das nächste Dorf Lobuche (4.940 Meter) kann man von hier bereits erkennen. Dazwischen liegt allerdings noch der „challenging part“, wie Saurav es nennt. Er meint die Überquerung des berühmten Khumbu Gletschers – ein breites Band aus zerklüftetem Eis, das mit hellgrauem Geröll überzogen ist. Wir laufen über eine Stunde auf einer riesigen Steinlawine vom Pass hinunter und müssen dann nochmal auf den hohen Rand des Gletschers laufen. Nun bin ich es, die angespannt guckt. Saurav sagt, es sei nicht ganz einfach, den richtigen Weg durch den Gletscher auf die andere Seite zu finden. Der höchstgelegene Gletscher der Welt ist ständig in Bewegung. Er schiebt sich von den Hängen des Mount Everest, Lhotse und Nuptse jeden Tag um einen Meter nach unten. Wir müssen zügig über teils riesige Steine krabbeln – manche lose, manche mit größeren Spalten dazwischen. An einer Stelle bricht das Eis und plumpst mit einem dumpfen Knall ins hellblaue Schmelzwasser. Saurav bittet mich, schneller zu laufen. Ich bin ziemlich k.o. und muss mich an einigen Stellen ganz schön überwinden.
Nach neun Stunden laufen wir erleichtert auf Lobuche zu. Der Ort ist eine lose Ansammlung einiger Häuser. Man hört die Glocken der Yaks, die umherlaufen. Als wir in der Lodge eintreffen, zittert mein Körper erstmals vor Kälte. Wir bestellen einen Eimer heißes Wasser und verschwinden damit in die enge Wellblechdusche. Es tut unheimlich gut, als das Wasser ganz langsam über den verhärteten Körper läuft. Normalerweise spielen wir abends mit Saurav fast immer eine Runde „Mensch ärgere dich nicht“ (Ludo), aber heute sind wir dafür definitiv zu müde.
Nach einem Tag Pause in Lobuche geht es hinauf nach Gorak Shep (5.164 Meter) und am selben Tag noch zum Everest Basecamp. Sowohl Micha als auch ich spüren heute das erste Mal Symptome der Höhenkrankheit. Uns wird immer wieder schwindelig beim Laufen und ich habe das Gefühl, als würde mein Herz explodieren. Ich überlege, ob ich es wirklich bis ins Basislager schaffen kann. Saurav drängelt nicht, aber er hofft, dass wir jetzt nicht aufgeben. Wir gehen einfach ganz langsam weiter und das hilft. Die Umgebung am Ursprung des Khumbu-Gletschers wirkt wie eine Traumkulisse einer 3D-Animation. Sie zieht uns in den Bann und gibt außerdem Kraft. Bald kann man die gelben und hellgrünen Zelte des Basislagers in der Ferne auf dem Schnee erkennen. Manche Menschen machen es sich leichter – sie fliegen mit dem Helikopter oder lassen sich auf einem armen Pferd nach oben bringen. Wir können es nicht fassen, als ein Pferd mit einer Touristen auf dem Rücken an uns vorbeiläuft – am Strick geführt von einem Guide. Die Dame in modernem Trekking-Outfit sitzt wie ein Kartoffelsack auf dem Tier und juchzt vor Angst, als es über die steilen Steinstufen klettern muss. Zur Krönung zündet sie sich bald darauf noch grinsend eine Zigarette an. Die anderen Trekker und wir schauen ungläubig und beschämt hinterher.
Wir haben das Basislager am Ende dann doch noch erreicht und sind mega glücklich darüber. Auf dem Rückweg nach Gorap Shep ist Micha wie betrunken. Er sagt, es fühlt sich an, als würde er jeden Moment das Bewusstsein verlieren. Trotzdem geht’s ihm gut und er spürt eine gewisse Leichtigkeit – ein bisschen wie unter Drogen. Die Lodge, in der wir heute übernachten, ist groß und voller Gäste. Leider gibt es keine Waschgelegenheit und die Toiletten sind eklig. Als wir uns zum Abendessen in den Gastraum setzen, fühle ich mich unwohl. Mein Kreislauf ist schlapp und mein Herz schlägt unruhig. Eine indische Trekkerin liegt kreidebleich am Nebentisch auf der Bank. Wir bestellen eine große Kanne heißes Wasser – drei Liter kosten hier oben auf über fünftausend Metern 2.200 Rupien, also fünfzehn Euro. Wir gehen früh ins Bett und ich mache mir einen Podcast an, der mich ablenkt und beruhigt. Draußen sinkt die Temperatur auf minus vierzehn Grad.
Am nächsten Morgen geht es uns beiden ganz gut, dennoch wollen wir nur noch bergab. Wir wandern gemütlich und gut gelaunt bis nach Dzongla (4.830 Meter). Es ist ein sehr entspannter Tag und wieder verändert sich die Landschaft enorm. Man denkt, sie kann nicht mehr schöner werden, aber dann taucht ein neues Panorama auf. Dieses Mal ist es der perfekt geformte Cholatse, auf den wir zulaufen. Auch Dzongla ist ein besonders schöner Ort. Wir haben die Hauptroute des Everest-Basecamp-Treks verlassen und sind jetzt wieder in eher einsamer Gegend unterwegs. Dzongla ist eine beschauliche, kleine Weidesiedlung, die im Sommer umringt ist von Yakherden. Wir fühlen uns sofort wohl hier. Es ist der perfekte Ort, um einen Tag zu verweilen, bevor wir über den zweiten Pass wandern: der Cho La mit 5.335 Metern. Bis dahin genießen wir erstmal einen ruhigen Pausentag mit Wäschewaschen und Spazieren.
Die Nacht vor dem zweiten Pass ist dann leider eine Tortour für Micha und mich. Egal wie tief oder ruhig wir atmen, es kommt einfach nicht genug Luft in die Lunge. Wir sind froh, als wir um vier Uhr endlich aufstehen. Als ich über dem Klo hocke, wird mir schwindelig und mein Atem ist schwer. Ich habe gestern vergessen, genug zu trinken und leere jetzt eine ganze Flasche eiskaltes Wasser, um meinen Kreislauf zu stabilisieren. Als wir aufbrechen, fühle ich mich etwas besser, aber die ersten hundert Meter am Berg sind schlimm. Immerhin fühlt sich Micha recht fit, doch ein Kraftakt ist es in dieser Höhe für uns beide. Ich zweifle kurz, ob ich tatsächlich weitergehen soll. Da hüpft mir auf diesem schroffen Stück Erde plötzlich ein dicker, fröhlicher Spatz vor die Wanderschuhe. Wo kommt der denn her?! Ich glaube, er will mir sagen: Suse, du schaffst das heute. Der Anstieg ist zunächst eher sanft und von dunkelgrauen Bergen umringt. Wir müssen mehrmals über teils vereiste Fließe hüpfen. Auf dem letzten Abschnitt zum Cho La liegt dann ein großes Eisfeld vor uns, über das wir nach oben laufen müssen. Jeder Schritt über die krustige Schneedecke macht laute Geräusche.
Und auch den zweiten Pass meistern wir. Auf der anderen Seite können wir uns an Drahtseilen entlang hinunter hangeln. Als wir im Tal sind und auf den Cho La zurückblicken, können Micha und ich kaum fassen, dass wir eben noch dort oben standen. Wenn wir es nicht besser wüssten, hätten wir nie geglaubt, dass das machbar ist.
Der Weg bis ins nächste Dorf nach Dragnag (4.800 Meter) zieht sich. Micha ist heute so k.o. wie an keinem anderen Tag unserer Tour. Sein Rücken tut weh und im rechten Fußballen hat sich eine gelkissenartige Schwellung gebildet, die ebenfalls schmerzt. Die kommende Nacht ist für ihn auch wieder nur mittelprächtig. Er hat verrückte Träume und wacht zwischen 23 und 4 Uhr ständig auf. Trotzdem hat er morgens nie schlechte Laune.
Ich habe meinen schlimmsten Moment am nächsten Vormittag, als wir auf dem Weg nach Gokyo den längsten Gletscher im Himalaja überqueren müssen. Der Ngozumpa-Gletscher ist 36 km lang, anderthalb Kilometer breit und stark mit Geröll und Sand bedeckt. Es wird etwa zwei Stunden dauern, ihn zu überqueren. Der von der Kälte gefrorene Schotter knirscht laut unter meinen Sohlen. Es geht hoch und runter und die Sonne wärmt das Eis, so dass sich immer wieder Sand und Steine lösen. Plötzlich spüre ich wieder diese Naturgewalt – eine Eismasse, die sich bewegt. Ein paar Grate sind so schmal, dass ich Angst habe, abzurutschen. Als wir fast drüben sind, müssen wir noch einen rutschigen, sandigen Pfad den steilen Hang nach oben. Steine und kleine Staublawinen rollen vom Gletscherrand herunter. Ein Gefühl der Panik steigt in mir auf und meine Kraft ist auf einmal verschwunden. Ich kann nicht weitergehen, schnappe nach Luft und Tränen kullern mir aus den Augen. Micha beruhigt mich. Dann nimmt Sarauv mich für ein kurzes Stück an die Hand und beide helfen mir hinauf. Dieser Moment der Angst dauerte nur wenige Minuten, aber er wird mich noch den ganzen Tag beschäftigen. Um elf Uhr stehen wir auf dem Gletscherkamm und werden mit einem Wow-Ausblick auf den See von Gokyo (4.790m) belohnt, der uns in einem satten Türkis anleuchtet. Vor wenigen Wochen war der See noch zugefroren. Hindus and Buddhisten verehren ihn als heilig.
Der Gastraum der Cho Oyu Lodge hat große Fenster und wir haben einen genialen Panoramablick auf See und Berge. Die Sonne scheint durch die Scheiben und wir machen in ihrer wohligen Wärme ein Nickerchen. Am nächsten Tag laufen Micha und Saurav den Gokyo Peak (5.357 Meter) hinauf – eine steiler, staubiger Berghügel mit unglaublicher Aussicht. Ich bleibe in der Lodge und lese den ganzen Tag lang genüsslich einen Thriller, den ich im Gastraum gefunden habe. Auf dem eiskalten See schwimmen vier hübsche Enten, die ungewöhnlich laut rufen können. Ich glaube, es sind Rostgänse. Sie sind sehr gute Flieger und schaffen es locker über den Himalaja. Wirklich erstaunlich, was die Natur erschaffen hat.
Der dritte und damit letzte Pass steht an: der Renjo La (5.360 Meter). Saurav zeigt in der Lodge mit dem Finger in die Ferne. Da oben geht’s lang. Es wird nochmal steil, sagt er. Seit meiner Erfahrung auf dem Gletscher bin ich etwas verunsichert. Tatsächlich fordert der Aufstieg am nächsten Morgen alle Kraft, aber gefährlich wird es nicht. Micha und ich schnauben gut gelaunt und mit dem Gefühl, dreißig Jahre älter zu sein, Schritt für Schritt nach oben. Bei Saurav sieht es wieder so aus, als würde er spazieren. Der leuchtende Gokyo-See erscheint immer kleiner. Nicht mehr lange, dann kann man ganz winzig die Gebetsfahnen am Pass erkennen. Hinter uns wird der Blick auf den König der Berge immer besser. Und dann haben wir auch den letzten Fünftausender Pass geschafft! Micha stößt einen lauten Juchzer aus – wie ein echter Gipfelstürmer. Der Ausblick vom Renjo La ist auf jeden Fall die Krönung der Tour. Vor dem tiefblauen Himmel erstreckt sich eine gigantische Kette schneebedeckter Gipfel – in der Mitte der massive Everest umgeben von Lhotse, Nuptse, Makalu, Pumori und so weiter. Es ist, als blickten wir auf ein riesiges Gemälde. Die vielen Gebetsfahnen flattern im Wind und ihre fünf Farben bilden den perfekten Kontrast dazu. Ich fühle mich gerade so frei und gleichzeitig erfasst mich eine herrliche Mischung aus Ermüdung und Erleichterung. Beschwingt starte ich in den Abstieg. Micha wird dagegen von einer starken Müdigkeit überfallen. Es bläst uns ein kalter Wind in die Gesichter und wir stülpen die Kapuzen über die Köpfe. Der Weg bis nach Lungdhen (4.375 Meter) ist nochmal der Hammer. Mir gehen langsam die Worte aus, um die Schönheit dieser Landschaften angemessen zu beschreiben. Nach sieben Stunden tauchen die langen, niedrigen Felssteinmauern auf, die das kleine Bergdorf durchziehen und einrahmen. Müde aber happy stolpern wir in die gemütliche, ruhige Lodge und bestellen einen großen Teller Makkaroni mit Tomatensoße und Yakkäse. Micha und ich fallen danach in unserem sonnigen Zimmerchen wie schwere Säcke auf die Betten und schlafen ganze vier Stunden lang. Diesen Nachmittagsschlaf haben wir dringend gebraucht. Am nächsten Morgen kratzte ich „Good Morning“ in die zarte Eisschicht, die sich von innen an die Fensterscheibe gelegt hat. Ich kann bereits den Rauch riechen, mit dem die Tibeter jeden Morgen ihre Häuser ausräuchern, um Harmonie zu erzeugen und dunkle Mächte zu verbannen. Dafür werden Pinienzweige, Glanzmispeln und anderen aromatischen Gewächse angezündet.
Es ist der schönste Morgen der ganzen Wanderung, denn nun liegen alle Pässe hinter uns. Beim Frühstück hält Micha seine Tasse Tee in den Händen und pustet lächelnd den Dampf in die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster in den Gastraum fallen. Ich genieße ein sanftes Hochgefühl und freue mich über dieses schöne Dorf und den sonnigen Tag. Heute geht es weiter bergab nach Thame (3.820 Meter).
Kurz hinter Lungdhen überholen wir einen alten Mann, der einen Korb mit aufgesammeltem Yak-Dung auf seinem Rücken trägt. Sein Gesicht zeigt tiefe Falten, als er uns anlächelt und freundlich zurück grüßt. Sein Name ist Temba. Wenn wir wollen, können wir ihm gerne in sein Steinhaus folgen. Vor dem Haus wartet schon ein kleines weißes Yak auf seine Rückkehr. Am Haus angekommen, bittet uns Temba auf einen Tee hinein. Wir müssen uns bücken, um durch die Holztür zu passen. Im Haus ist es dunkel, die Wände sind schwarz vom Ruß der kleinen Feuerstelle. Rechts im Haus lagert ein Haufen Heu. Außer einer winzigen Holzbank, einem Höckerchen und einfachen Regalen an der Wand gibt es keine Möbel. Zum Schlafen legt Temba eine feste, gefüllte Decke auf den staubigen Holzboden.
Temba wurde hier vor siebzig Jahren geboren. Seine Mutter war eine aus Tibet geflohene Sherpafrau, sein Vater ein Rai. Er lebt allein hier. Seine Tochter kommt öfter vorbei und versorgt ihn, wenn etwas fehlt. Aber Temba braucht nicht viel, wie es scheint. Obwohl es ein hartes Leben ist, beschwert er sich nicht. Im Gegenteil, er sieht sehr zufrieden aus. Wir verabschieden uns dankend und kommen ein paar Stunden später im Bergsteigerdorf Thame an. Es ist die Heimat von Tenzing Norgay und Kami Rita Sherpa. Kami Rita, 1970 geboren, ist gerade am Mount Everest unterwegs und wird den Gipfel in zwei Wochen zum 29sten Mal erfolgreich bestiegen haben – so oft wie kein anderer Mensch. Wir landen zufällig in der Lodge seiner Schwester, die uns stolz von ihrem Bruder erzählt.
Auf unseren allerletzten Etappen nach Namche Basar, Phakding und Lukla laufen wir durch den Frühling, riechen endlich wieder Bäume und können frei durchatmen. Jetzt kann man auch seinen Gedanken wieder freien Lauf lassen, denn jede Anspannung ist gewichen. Wir sind sehr dankbar und glücklich über das Abenteuer, dass wir erlebt haben. In den letzten vier Wochen sind wir sieben Mal auf über fünftausend Metern gewesen – in einer Welt, die so anders und unfassbar schön ist.
Jetzt, wo das Adrenalin nachlässt, spüren wir die Müdigkeit. Ein bisschen ist auch die Luft raus und wir sind froh, als wir endlich den Flughafen von Lukla sehen. Hier wird es nochmal spannend für uns, immerhin steht uns ein Flug vom gefährlichsten Flughafen der Welt bevor. Die nach unten abfallende Landebahn ist gerade mal 527 Meter lang. Danach bricht sie abrupt ab – 600 Meter tiefer fließt der Dudh Koshi Fluss entlang. In Lukla können nur kleine Propellerflugzeuge starten und landen – wenn das Wetter passt. Die ganze letzte Woche wurde hier wegen des Wetters kaum geflogen. Wir haben Glück und dürfen den nächsten Morgen, am 29.04.2023 um halb sieben wie geplant in die kleine Maschine von Tara Air einsteigen. Noch nie habe ich in so einem kleinen Flugzeug gesessen. Wir setzen uns zu dritt direkt hinter die beiden Piloten. In Lukla dürfen nur sehr erfahrene Piloten ans Steuer. Als die Propeller gestartet werden und wir die Landebahn hinab düsen, kribbelt es fürchterlich in meinem Bauch. Das Geräusch des Motors dröhnt in den Ohren. Nicht mal zwanzig Minuten dauert der Flug bis Ramecchap und ich bin froh, als wir wieder gut landen (–> Instagram-Video vom Flug). Saurav sieht ebenfalls glücklich und zufrieden aus. Es ist der perfekte Zeitpunkt für eine herzliche Umarmung und ein großzügiges Trinkgeld. Es hat wirklich sehr gut gepasst mit uns Dreien. Von Ramecchap aus müssen wir jetzt noch fünf Stunden lang im Minibus nach Kathmandu fahren – zusammen mit drei Trekkerinnen aus Malaysia, die wirklich schlimm erkältet sind. Es ist schön, wieder “zuhause“ zu sein und den Komfort zu genießen, den Kathmandu uns bietet. Über drei Wochen werden wir es uns hier gemütlich machen, bevor es auf die andere Seite des Himalajas geht: nach Tibet.
Kongma La (5.535 m)
Der erste und höchste aller Pässe. Nach dem Abstieg gab’s noch den echten „challenging part“ – die Überquerung des Khumbu-Gletschers.
Cho La (5.380 m)
Vor dem zweiten Pass müssen wir über ein hartes Eisfeld laufen. Auf der anderen Seite können wir uns an Drahtseilen runterhangeln.
Renjo La (5.360 m)
Auf dem dritten Pass müssen wir uns nochmal ordentlich quälen. Aber der Ausblick auf den Everest ist hier einfach nur Wahnsinn!
Hallo Ihr Lieben,
Ich bin fasziniert von Eurer Leistung !!
Und begeistert von Suses anschaulichem Bericht, der viele Erinnerungen wieder wach werden lässt. Ihr habt nicht aufgegeben an den Tiefpunkten, ich kann alles intensiv nachempfinden, wie es einem in solchen Situationen zumute ist. Nochmal Hut ab vor Eurer Leistung. Und dazu noch Bilder und Videos machen, was einem zeiteise alles wurscht ist. Aber Ihr habt trotzdem alles genießen können und seid stolz auf Eure Leistung. Da stimmt mental alles !
Glückwunsch
Pit
Hey Ihr zwei,
das ist ja alles total abenteuerlich, was Ihr erlebt. Danke für die tollen Bilder und Berichte! Ich wünsche Euch weiterhin, dass alle guten Geister mitreisen mögen und Euch beschützen mögen. Liebe Grüße aus dem fernen Potsdam
Lothar