Kirgistan besteht zu 94 Prozent aus Gebirge. Und wir sind diesen Sommer einmal quer durchgefahren. Der gewaltige Tien Shan, der das Land mit etlichen Ausläufern durchzieht, bedeutet wörtlich himmlische Berge – Kunstwerke der Natur, oft abgeschieden, still und unwegsam. Radfahren ist hier anstrengend und unbequem. Allerdings waren wir auch nirgends zufriedener mit dieser Art des Unterwegseins. Die beiden Monate in Kirgistan zählen zu den schönsten unserer Reise.
14. Juli 2024. Nach unserem Abenteuer im Alai kommen wir müde in Osch an. Es ist Sonntag und am Stadtrand müssen wir uns mit den eingestaubten Fahrrädern erst noch durch einen kilometerlangen Stau schlängeln. Grund ist ein riesiger Gebrauchtwagen- und Autoteilebasar. In Kirgistan begegnen uns auffällig viele alte Audis 100 oder Daewoo Nexia, ein Nachbau des Opel Kadetts. Neuwagen kommen vor allem aus China und Südkorea.
Micha und ich erkennen Osch kaum wieder. Bei unserem Besuch vor acht Jahren gab es weder Hochhäuser noch Supermärkte und nur ganz wenige Restaurants. Das hat sich komplett verändert und der Bauboom hält immer noch an. Als wir an der Unterkunft ankommen, erfahren wir, dass heute der berühmte Basar in Osch vom Ak-Buura Fluss überflutet wurde. Fast alle Verkaufscontainer stehen im Schlamm. Hunderte Häuser wurden evakuiert. Dass Bergflüsse plötzlich ansteigen oder Regenfälle für Erdrutsche sorgen, ist in Kirgistan normal. Dieses Jahr sind diese Ereignisse allerdings ungewöhnlich stark und zerstörerisch. Auf dem Weg nach Osch sind wir ebenfalls an weggespülten Straßen und Brücken vorbeigekommen. Die Spuren, die die Fluten hinterlassen, sind gewaltig.
Wir ziehen für eine Woche ins gemütliche Haus von Rosa ein, die hier alleine wohnt, seit ihr Ehemann verstorben und alle vier Kinder ausgezogen sind. Die Zimmer im Obergeschoss vermietet sie seitdem an Gäste. Barfuß laufe ich mit dem Gepäck über die glanzlackierte Holztreppe nach oben, wo wir im schönsten Zimmer schlafen dürfen. Es ist sehr hell, hat gemütliche alte Möbel und rosafarbene Wände.
Wir sind die ersten Tage in Osch ziemlich kraftlos – ich fühle mich fast schon krank. Vielleicht ist es das warme Wetter, an das wir uns erst wieder gewöhnen müssen. Da Osch nicht hoch liegt, bringt es die Sommersonne locker auf 35 bis 40 Grad.
Als wir uns wieder fit fühlen, starten wir in die nächste Etappe. Wir werden zunächst auf einer Asphaltstraße nach Ösgön und Dschalal-Abad radeln, dann auf einer Schotterpiste über den Kaldamo-Pass bis Kasarman. Das sind insgesamt rund 450 Kilometer. Als wir gerade aus Osch herausfahren, sind wir nicht die einzigen Radfahrer auf der Straße. Ein paar hundert Meter vor uns tritt ein Junge mit Rucksack auf dem Rücken kräftig in die Pedale. Sein Fahrrad ist etwas klapprig und hat eine schwache Acht im Hinterrad. Irgendwann hält er an und streckt uns seine Wasserflasche entgegen. Überrascht von der lieben Geste fragen wir ihn, ob er einen weiten Weg vor sich hat an diesem heißen Tag. Mohammed, so heißt er, will heute noch nach Dschalal-Abad, um seine Oma zu besuchen. Mit dieser Antwort hätten wir nicht gerechnet. Das sind nämlich über neunzig Kilometer auf einer viel befahrenen, sehr hügeligen Landstraße, auf der es kaum Schatten gibt. Mohammed fährt die Strecke allerdings nicht zum ersten Mal. Wir fahren ein Stück zusammen weiter, spendieren diesem coolen Jungen ein Mittagessen, tauschen unsere Telefonnummern aus und verabschieden uns wieder.
Nachmittags ist die Hitze kaum noch auszuhalten. Micha und ich suchen uns daher kurz vor der Kleinstadt Ösgön zwischen Büschen am Fluss einen halbwegs schattigen Platz und richten unser Lager her. Ein Stückchen weiter kommen Kinder aus dem Ort an den rotbraun gefärbten Fluss, um sich abzukühlen. Abends tauchen dann zufällig noch zwei andere Radreisende aus der Schweiz an unserem Versteck auf, die sich abgekämpft vom heißen Tag zu uns gesellen. Joos und Tanja haben mit ihren sportlich bepackten Rädern schon einige Abenteuer hinter sich. Micha radelt in die Stadt und besorgt noch schnell eine saftige Melone und kühles Bier, bevor wir Geschichten austauschen. Mohammed ist übrigens gut bei seiner Oma angekommen.
Die ruppige Schotterstraße hinauf zum Kaldamo-Pass auf knapp 3.000 Metern verläuft durch ein langes, stetig ansteigendes Bergtal. Es ist abgelegen, aber keine einsame Strecke. Da es die einzige Straße nach Kasarman ist, stauben hier jeden Tag mehrere Autos über die Piste. Außerdem poltern immer wieder kleine Lastwagen mit Schafen, Rindern und Pferden an uns vorbei. Noch dieses Jahr soll ein neuer Gebirgshighway mit dem größten Tunnel des Landes eröffnen und die alte Bergstraße ablösen. Seit zehn Jahren wird daran gebaut.
Sechzehn Kilometer vor dem Kaldamo-Pass wird es steil und der Weg windet sich in etlichen Kurven nach oben. Als wir die Serpentinen in Angriff nehmen, ist es schon später Nachmittag und wir sind bereits mehrere Stunden auf den Fahrrädern unterwegs. Heute weht kein einziger Windhauch, die Sonne brennt heiß auf unsere Rücken und die eingestaubten Füße schwitzen in den Sandalen. Wir kommen nur mühsam vorwärts. Aus einer Jurte laufen zwei kleine Jungs auf uns zu und fragen aufgeregt nach Schokolade. Als wir ihnen Bonbons schenken, greift einer der Jungs in seine schmutzige Hosentasche und kramt als Dankeschön zwei kleine weiße Murmeln hervor. Es ist Kurut – getrockneter salziger Käse und ein beliebter Snack in Kirgistan. Wir mögen die steinharten Kugeln inzwischen. Man muss nur aufpassen, dass man sich nicht die Zähne daran ausbeißt.
Wir schaffen bis zum frühen Abend noch sechs steile Kilometer mit 400 Höhenmetern, danach ist die Kraft für diesen Tag aufgebraucht. Jetzt müssen wir nur noch Wasser und eine sichere Stelle fürs Zelt suchen. Beides ist schwierig, aber zum Glück finden wir ein grünes Fleckchen am schmalen Rand der staubigen Bergstraße und wenigstens ein trübes Rinnsal am Felsen, an dem sich jetzt zum Sonnenuntergang die Kühe mit lautem Muh auf einen Drink treffen.
Am nächsten Morgen sitzen wir früh auf den Fahrrädern, um in den kühlen, ruhigen Morgenstunden die restlichen Kilometer bis zum Pass anzugehen. Micha und ich haben gute Laune, was die Anstrengung leichter macht. Auf dem Weg nach oben werden wir von einem Auto überholt, aus dem uns ein Mädchen Äpfel und selbstgebackene Küchlein aus dem Fenster reicht. Als wir mittags endlich oben am Pass ankommen, gucken wir auf die steilen Kurven zurück und sind stolz auf uns. Eine gut gelaunte Männertruppe, die zusammen einen Ausflug macht, laden Micha zum hausgemachten Schnaps ein. Alkoholgehalt 69 Prozent, erzählen sie uns hinterher.
Die Abfahrt auf die andere Seite des Passes bleibt eine Rumpelpiste. Wer hätte gedacht, dass wir auf dieser Strecke auch noch einen italienischen Espresso serviert bekommen. Die süße Überraschung kommt von Mauro und Virginia, die uns in ihrem Jeep überholt hatten. Die zwei reisen etappenweise durch Asien. Das Auto lassen sie einfach zwischendurch für einige Monate im Ausland zurück.
Als wir zwei Tage später Kasarman erreichen, scheint die Sonne grell und heiß auf das große schöne Dorf. Hier gibt es wieder Geschäfte, ein typisch kirgisisches Restaurant und Geldautomaten. Wir bleiben zwei Tage und suchen uns einen Fahrer, der uns und die Fahrräder etwa 180 Kilometer bis ans Nordufer des Song-Köl bringen kann. Ulan, 36 Jahre alt, wird uns in seinem alten Audi 100 fahren. Er kann das Geld gut gebrauchen. Er hat sieben Kinder.
Es ist das zweite Mal, dass wir den größten See Kirgistans besuchen. Der Song-Köl liegt auf einem Plateau auf dreitausend Metern und ist nur über Bergpässe und auf Pisten zu erreichen. Manche sagen, dort liege das Herz Kirgistans. Denn seit Tausenden von Jahren ziehen kirgisische Familien jedes Jahr von etwa Mai bis September mit ihren Jurten und Tierherden hinauf an diesen abgeschiedenen Ort. Damals nutzen die einstigen Nomaden noch ihre Pferde für die extremen Wanderungen über die Berge. Das Hochgebirgswetter ist unberechenbar und Familien, die zum Ende des Sommers den Zeitpunkt für den Rückzug vom See verpassten, riskierten den Tod.
Wir fahren mit Ulan zunächst nordwärts auf einer neuen Asphaltstraße am großen Naryn-Fluss entlang. Sie führt durch eine beeindruckende Schlucht und an manchen Stellen haben abgebrochene Felsen die neue Straße schon wieder stark beschädigt. Nach einem Stopp an der Tankstelle stottert beim Fahren auf einmal der Motor. Ulan ärgert sich. Gepanschtes Benzin, sagt er. Ansonsten ist es unfassbar bequem in dem alten Auto. Auch dann noch, als wir dreißig Kilometer vor dem See auf eine raue Schotterpiste abbiegen und steil über die Berge fahren. Ich genieße den leichten Fahrtwind und Ausblick am offenen Fenster und bin froh, dass wir mal nicht auf dem Fahrrad sitzen. Es ist doch erstaunlich, wie schnell und sorglos man im Auto vorankommt. Die Staubwolke kann uns diesmal völlig egal sein.
Bald taucht der blaue Song-Köl vor uns auf – umringt von Hügeln, grünen Weiden und schneebedeckten Gipfeln. Manche sagen, das hier sei der schönste und stillste Ort im ganzen Land. Wir haben das bei unserem ersten Besuch vor acht Jahren auch so erlebt und wollten unbedingt nochmal zurückkommen, um diese Weite und Freiheit zu spüren.
Die Weiden am Nordostufer sind sehr hügelig. Scheinbar willkürliche Autospuren leiten uns kreuz und quer über das flache Gras. Man kann sich in dieser Weite verlieren. Hier und da sehen wir weißen Jurten, die wie Meilensteine in der Landschaft stehen. Pferde und Rinder laufen frei über das Land. Zäune gibt es keine.
Wir kommen näher ans Ufer des Sees und bald taucht eines der Jurtcamps auf, in denen Touristen übernachten können und mit Essen versorgt werden. Ulan setzt uns in der Nähe des Camps ab und fährt zügig wieder davon. Es ist sonnig, warm und windstill. Hunderte zarter Insekten belagern unser Zelt, das wir nah am See aufgebaut haben. Pferde und Kühe traben an uns vorbei, um aus dem Song-Köl zu trinken. Kleine Kälber machen wilde Wettrennen über die Wiese und sind so flink, dass die Hirtenhunde kaum hinterher kommen.
Wir hatten den riesigen Song-Köl beim ersten Mal von Süden her besucht. Zu der Zeit war das Wetter deutlich kühler. Diesmal ist das Wasser warm genug, so dass Micha kurz baden gehen kann. Mutter und Sohn der Familie, die das Jurtcamp in der Nähe betreuen, statten uns einen kurzen Besuch ab, um uns auf einen Willkommenstee einzuladen. Es sind so liebe Leute. Wir schließen sie sofort ins Herz. Fünf Monate lang wohnen sie zu viert oder fünft in einer Jurte, die als Schlafplatz und vor allem als Küche dient, um die Touristen zu versorgen, die für ein paar Tage zum Wandern oder Reiten hierher kommen. Am kleinen Blechofen in der Jurte wird den ganzen Tag gekocht und Brot gebacken. In der Ecke steht ein großes Fass mit Kumys. Die beliebte vergorene Stutenmilch kann nur im Sommer hergestellt werden, wenn die Pferde noch ihre Fohlen haben. Solange die Sowjetunion existierte, durften die Kirgisen keine großen Pferdeherden besitzen. Nach der Unabhängigkeit Kirgistans kehrte das einstige Nomadenvolk allerdings schnell zur Tradition zurück. Seitdem sind Pferdezucht, Reiterspiele und Stutenmilch wieder Teil ihres Lebens.
Zwei Tage lang umrunden wir auf den Fahrspuren im flachen Gras den halben See. Wir müssen so gut es geht die Haut bedecken, da kaum eine Sonnencreme gegen die hohe UV-Strahlung ankommt. Für unsere kleine Jurte gibt es unendlich viel Platz. Manchmal reitet ein Kirgise vorbei. Ansonsten sind wir ganz allein – nur der Song-Köl, die Wolken, die Tiere und ab und zu ein kurzes Gewitter, das den See aufpeitscht und kräftig am Zelt rüttelt.
Am Südostufer angekommen lassen wir den Song-Köl wieder hinter uns. Die Schotterstraße in Richtung Naryn führt uns über den spektakulären Teskey Torpok Pass, auf dem sich die Piste in 33 engen Kurven fünf Kilometer abwärts schlängelt. Der Weg ist mit Steinen übersät und hat tiefe Furchen von Schmelzwasser und Regen. Unten angekommen, schmerzen die Hände vom Bremsen. Wir finden am Fluss einen wunderschönen Platz fürs Zelt. Drei Jungs kommen vorbei und verkaufen uns Brot und Kumys. Am nächsten Tag geht’s dann sehr früh weiter, um in der Morgenfrische noch einen letzten Dreitausender Pass zu überqueren, bis wir zurück in der Zivilisation sind. Während wir die schweren Fahrräder um die letzten steilen Kurven nach oben schieben, rücken die Wolken zu einer dunkelblauen Wand zusammen. Diesmal ist es kein kurzes Gewitter, sondern heftiger Regen, der uns fast den ganzen restlichen Tag bis Naryn begleitet.
Nach ein paar Tagen in der Stadt starten wir in unsere letzte kirgisische Bergetappe, bevor wir nach Kasachstan ausreisen müssen. Sie bringt uns ans Südufer des Yssyk-Köl, dem größten See Kirgistans und dem zweitgrößten Hochgebirgssee der Erde. Auf dem Weg dorthin müssen wir das Arabel-Plateau überqueren – eine Hochebene auf über 3.800 Metern. Sechs Tage werden wir unterwegs sein. Da es auf der Strecke wieder mal kaum Gelegenheit zum Einkaufen gibt, haben wir Michas Fahrradtaschen so gut es geht mit Essen voll gestopft: Nudeln, Buchweizen, Tomatenmark, Gemüse, Thunfisch, Nüsse, Haferflocken, Milchpulver, Kekse, Schokolade und Brot.
Die erste Nacht bauen wir unser Zelt auf einer Wiese mit Wasserquelle am Rande des kleinen Dorfes Eki Naryn auf. Die Abendsonne bricht durch die Wolken und taucht das friedliche Dorf und die Berge um uns herum in ein warmes Licht. Ein alter Mann und ein paar Kinder spazieren für eine kurze freundliche Begrüßung zu uns herüber. Am zweiten Tag müssen wir durch eine Schlucht fahren. Der Weg geht ständig hoch und runter und folgt dem Kleinen Naryn, der grau getrübt durch das Gebirge rauscht. Am Ende des Tages erreichen wir ein weites traumhaftes Tal. Die Berge an den Talseiten sehen aus, als hätte man hellbraune Samttücher mit sanften Falten über sie geworfen. Der große Fluss rauscht uns in den Schlaf.
Mitten im Tal liegt ein letztes kleines Dorf mit Miniladen, an dem wir am nächsten Morgen einen Tee trinken, eine Flasche Fanta und Erdnüsse kaufen. Hier endet auch das Telefonsignal. Die Räder poltern ab jetzt entweder über steinige Wege oder rollen über feste Spuren im flachen Gras. Die Route folgt großen Flüssen, die sich durch die einsamen Täler winden. Rückenwind schiebt uns über die Hügel, auf denen Pferde und Kühe grasen. Unzählige Male kreuzen kleine Bäche den Weg. Ab und zu passieren wir eine Jurte, in deren Nähe zum Abend die Tiere zusammenkommen.
Nach etwa 40 bis 50 Kilometern ist der Fahrtag zu Ende. Dann suchen wir uns in der Nähe eines Baches einen Platz für die Nacht. Die Murmeltiere pfeifen an ihren Erdlöchern und ärgern sich, dass wir ihnen zu dicht auf den Pelz rücken. Mit dem Aufschlagen des Zeltes beginnt für uns die schönste Zeit des Tages. Wir machen uns am Fluss frisch und genießen danach ein warmes Abendessen, während die Sonne allmählich hinter den Bergen verschwindet. Es wird schnell kalt und wir krabbeln müde und zufrieden in unsere Daunenschlafsäcke.
Auf der letzten Tagesetappe bis zum Arabel-Pass müssen wir durch ein Flussgebiet mit mehreren steinigen Wasserläufen. Das Wasser ist höchstens knietief, aber schnell und eisig. Wie es der Zufall will, finde ich kurz vorher mitten auf dem Weg ein Paar wasserfeste Outdoor-Sandalen, die ein anderer Radfahrer verloren haben muss. Sie passen mir wie angegossen und ich brauche nicht barfuß durch die steinigen Flüsse zu laufen.
Die letzte Nacht verbringen wir kurz vor den Serpentinen, die auf das hohe Arabel-Plateau führen. Das neue Tal ist enger und hat keine flachen Wiesen. Wir müssen eine Weile suchen, bis wir auf den gelbgrünen Hügeln eine ebene Stelle zum übernachten finden. Als wir das Zelt aufbauen, grollt ein Gewitter über die Berge. Wir krabbeln schnell in unsere Jurte und beobachten, wie sich Himmel und Landschaft verdüstern, bevor der Regen folgt. Es dauert nicht lange, dann blitzt die Abendsonne nochmal durch die Wolken und zaubert einen zarten Regenbogen vor die gelb angeleuchteten Berge.
12. August 2024, 7 Uhr. Es ist ein herrlicher Morgen. Über Nacht sind die Bergspitzen um uns herum eingeschneit. Wir machen ein kleines Frühstück, packen routiniert unser Zeug zusammen und starten in die letzten fünf Kilometer, bis wir das Plateau erreichen. Die steilen Kurven winden sich einen dunkelfelsigen Berg hinauf. Zwei Kirgisen sind vor uns nach oben geritten, um eine riesige Schafherde auf die Hochweide zu treiben. Es dauert fast zwei Stunden, bis wir sie einholen. An manchen Stellen müssen wir das Fahrrad zu zweit um die Kurve schieben. Und dann haben wir es mal wieder geschafft. 3.850 Meter zeigt unser Höhenmesser an. Das stille Plateau wird am Horizont von weißen Bergspitzen eingerahmt. Der tiefblaue Himmel hängt voller Schäfchenwolken, die ihre Schatten auf die Landschaft werfen.
Wir radeln hier oben an mehreren Seen vorbei und stoßen nach einigen Kilometern auf eine breite, tadellos planierte Kiesstraße. Sie wurde für den Lastwagenverkehr gebaut, der von der Goldmine Kumtor bis an den Issyk-Köl rollt. Die für Kirgistan wichtige Goldmine befindet sich ganz in der Nähe auf 4.000 Metern Höhe und gehört zu den größten Goldvorkommen der Welt. Sie wurde 1997 von Kanadiern erschlossen und erst vor wenigen Jahren nach harten Konflikten an den kirgisischen Staat übertragen.
Micha und ich dürfen uns jetzt auf die längste Bergabfahrt der ganzen Reise freuen. Vierzig Kilometer lang lassen wir die Fahrräder mit einem breiten Grinsen bis nach Barskoon an den Issyk-Köl rollen. Die Straße führt durch das Barskoon Valley, das wegen seiner Wälder und Wasserfälle ein beliebtes Ausflugsziel ist. Juri Gagarin soll hier nach seinem Weltraumflug Urlaub gemacht haben. Davon zeugen gleich zwei Denkmäler an der Strecke. Als wir in die Kleinstadt Barskoon hineinfahren, taucht am Horizont das leuchtende Türkis des Issyk-Köl auf. Der See ändert je nach Licht und Wetter seine Farbe. Im Moment leuchtet er wie das Mittelmeer. Statt Zitronen hängen die Bäume in Barskoon voller goldgelber Aprikosen. Die Leute tragen sie kistenweise aus ihren kleinen Gärten an die Straße, wo ein LKW die fruchtige Ernte einsammelt.
Als wir mit unseren Rädern an der Straße stehen, spricht uns eine große Familie an, die gerade vom Sonntagsausflug ins Valley nachhause kommt. Es sind zwar die üblichen Fragen, die wir beantworten, doch die fröhliche Art der Familie ist besonders. Sie schlagen uns vor, in ihrem Haus zu übernachten. Als wir höflich ablehnen, heißt es: Keine Sorge, wir sind eine lustige Familie. Wir werden viel Spaß haben. Jetzt sind wir diejenigen, die neugierig sind, und nehmen die Einladung doch noch an. Abends sitzen wir in ihrem Haus am großen Küchentisch, essen, erzählen, singen und tanzen. Die Eltern sind in unserem Alter und die Kinder noch jung oder schon erwachsen.
Tante, Onkel und Cousine sind auch dabei. Der Vater ist einer von 3.000 Arbeitern in der Kumtor Mine. Er fährt einen der riesigen Lastwagen mit Rädern so hoch wie eine Berliner Altbauwohnung. Das Haus der Familie ist ganz neu und stolz werden wir durch die Zimmer geführt, die noch auf Möbel warten. Während wir duschen, richtet die Mutter ein gemütliches Bett auf dem Boden im Wohnzimmer her. Vor wenigen Stunden waren wir noch Fremde. Nun dürfen wir eine Nacht lang Teil dieser netten Familie sein, die uns mit ihrer Lebensfreude und Entspanntheit sehr beeindruckt.
Von Barskoon aus radeln wir am Ufer des Issyk-Köl entlang nach Osten weiter. Die Straße ist viel befahren und die engen Überholmanöver an uns vorbei sind ziemlich stressig. In Karakol, der letzten Stadt auf unserer Radreise durch Kirgistan, ziehen wir für eine Woche in eine Zwei-Zimmer-Wohnung eines altsowjetisches „Neubauviertels“. Die Fassaden und Treppenhäuser der Wohnblöcke sind nie saniert worden und versprühen alles andere als einen maroden Charme. In den Wohnungen hinter den düsteren Türen haben es sich die Leute allerdings oft gemütlich eingerichtet und vieles selbst renoviert.
In Karakol wollen wir im Alltag der Stadt zur Ruhe kommen. Die Atmosphäre im Wohnviertel erinnert ein bisschen an unsere Kindheit. Spielende Kinder laufen um die Häuser. Auf der Leine hängt Wäsche in der Sonne. Ältere Frauen treffen sich auf der selbst gebauten Holzbank. Im kleinen Lebensmittelgeschäft um die Ecke gibt es alles, was man braucht und im Keller des Wohnblocks nebenan wird Brot gebacken und verkauft. Zwischen den Häusern haben die Bewohner kleine Gemüsegärten angelegt, in denen es ein bisschen wild durcheinander wächst.
Von Karakol aus sind es nur zwei Fahrradtage bis an die Grenze zu Kasachstan. Am letzten Tag unserer Sommerreise durch Kirgistan müssen wir noch über einen allerletzten holprigen Bergpass fahren. Danach haben die steilen Schotterwege erstmal ein Ende und wir steuern die Großstadt Almaty an. Dort sei es ein bisschen wie in Berlin, meinten andere Reisende.
TOLL !!!!
Bin begeistert von der Tour, der Landschaft und vor allem von Euch. Ihr meistert offenbar alle Situationen, die Stimmung scheint nach wie sehr gut zu sein obwohl Ihr schon so lange unterwegs seid. Super !
Wenn ich 20 Jahre jünger wäre…….
Weiterhin viel Glück und unfallfrei Kilometer
Pit