28. Juni 2023. Wir freuen uns auf ein paar Tage Athen, in denen wir die Räder stehen lassen und die Stadt in Ruhe durchstreifen können. Vom Hafen in Piräus fahren wir großteils auf einem angenehmen Radweg in die griechische Hauptstadt hinein. Es geht leicht bergauf und mitten durch. Im Zentrum verdichten sich die Straßen, aber der Verkehr ist nicht stressig. Die Autos werden durch lange, schattige Parallelstraßen gelotst, die als Einbahnstraßen angelegt sind. Kurz bevor wir unsere Adresse in Athen erreichen, fahren wir an einer jungen Frau vorbei, die in der Hocke auf dem Gehweg sitzt. Vor ihr steht ein kleiner schwarzer Rucksack. Die dunklen Haare fallen in ihr Gesicht. Sie versucht gerade, sich eine Spritze in den Unterarm zu drücken. Blut läuft vom Oberarm hinunter über ihre Hand. Der Anblick schockiert uns – größer könnte der Kontrast zu unserer Zeit auf Peloponnes nicht sein.
Athen ist ein großer Schmelztiegel und das harte Leben vieler Menschen ist hier nur zwei Metrostationen von den schönen Touristenvierteln entfernt. Wir haben eine billige Unterkunft in Attiki aufgetrieben – ein dicht besiedeltes Wohnviertel, in das sich kaum Touristen verirren.
Als wir unser Zimmer beziehen, fühle ich mich extrem unwohl. Es wirkt düster, lieblos, vernachlässigt. Ich will am liebsten sofort wieder weg und raus aus der Stadt. Micha und ich gehen nach draußen und laufen durch das Viertel. Hier leben keine reichen Leute und die Wohnhäuser sind in die Jahre gekommen. Man sieht ältere griechische Herren vor dem Café, muslimische Frauen vor dem Minimarket oder Studenten im Falafelladen über ihren Skripten. Überall gibt es kleine Restaurants und Shops, die oft von Ausländern betrieben werden – aus Pakistan, Afghanistan, Indien oder Syrien. Der Spaziergang durch die Nachbarschaft ist bereits eine kleine Asienreise.
Nach fünf Tagen müssen wir die Unterkunft verlassen. Mittlerweile sind wir auch mental in der Stadt angekommen und können das Treiben genießen. Wir bepacken die Räder und ziehen nur eine Straße weiter in eine schöne, helle Wohnung, die ebenfalls sehr günstig ist. Aus unserem neuen Fenster blicken wir unmittelbar auf die größte griechisch-orthodoxe Basilika Athens. Der Vorplatz der Kirche hat tagsüber wenig Schatten und alle meiden die Hitze des Betons. Sogar die Tauben sind verschwunden. Erst nach Sonnenuntergang füllt sich der Platz mit Leben und die Kinder toben sich genüsslich bis in die Nacht aus, bevor es ins Bett geht.
Die Tage in Athen werden heißer. Meistens gehen wir erst am späten Nachmittag vor die Tür, fahren mit der Metro in die unterschiedlichsten Viertel, besuchen die berühmten Sehenswürdigkeiten, Museen, Parks und klettern zum Sonnenuntergang auf die verschiedenen Hügel der Stadt. Von hier oben genießen wir jedes mal einen neuen Blickwinkel auf das weite, helle Häusermeer und die beleuchtete Akropolis.
Unser Plan für den weiteren Sommer ist, mit der Fähre von Piräus nach Zypern zu fahren und von dort möglichst schnell ins klimamäßig angenehmere Hochland der Türkei. Schon zweimal sind wir durch die Türkei gereist und freuen uns, noch mehr zu entdecken. Die Seeverbindung zwischen Griechenland und Zypern soll es erst seit letztem Jahr geben. Auf der Website des Anbieters können wir zwei Tickets reservieren, die unglaublich günstig sind: 38 Euro pro Person. Anhaltspunkte, dass es die Fähre tatsächlich gibt, finden wir nicht. Bis zur Abreise am 14. Juli müssen wir noch ein paar Tage warten. Wir ziehen daher ein drittes mal innerhalb Athens um – diesmal in eine Wohnung im Norden der Stadt. Die Gegend Kato Patisia wirkt heller, aufgeräumter und etwas ruhiger.
Nach zweieinhalb Wochen geht’s dann endlich los – wir sind richtig aufgeregt. Mitten in der Nacht steigen wir auf die bepackten Räder. Um ein Uhr sind es immer noch 30 Grad draußen. Vierzehn Kilometer radeln wir schwitzend durch die schwüle Dunkelheit zum Hafen und passieren dabei nochmal viele Orte, die wir in letzter Zeit besucht hatten. Ein schöner Abschluss. Micha und ich sind erleichtert, als wir die Fähre mit der Aufschrift Daleela tatsächlich im Hafenbecken sehen. Das Baujahr 1991 verleiht dem Schiff einen gewissen Charme. Wir haben keine eigene Kabine, aber finden schnell einen traumhaften Platz auf dem Teppich direkt vor einem Panoramafenster. 31 Stunden lang zieht das Mittelmeer entspannt an uns vorbei. Später erfahren wir, dass die Fähre von der zyprischen Regierung finanziell gefördert wird, um mehr Touristen aus der EU nach Zypern zu holen.
15. Juli 2023. Am frühen Nachmittag gehen wir in Limassol von Bord. Hitzeschock. Die Sonne ist hier noch heißer und greller, die Luft noch schwerer. Bis zum Haus von Iro, die uns ein Zimmer vermietet, sind es zwölf Kilometer einen Hügel hinauf. Verklebt und erhitzt kommen wir dort an. Es ist ein gemütlich eingerichtetes zypriotisches Steinhaus mit winzigem Garten, in dem ein Zitronenbaum der Sommersonne trotzt. Alle Fenster im Haus sind weit geöffnet, aber Abkühlung bringt es keine. Iro, 42 Jahre alt, hat das Haus vor zehn Jahren selbst renoviert. Sie hat mit ihren Eltern länger in Bahrain und zuletzt in London gelebt. Sie reist viel und gerne. Die aktuelle Hitzewelle macht sie ebenfalls müde. Seit zwei Jahren sei es deutlich heißer auf Zypern, sagt sie. Micha und ich verkriechen uns ins kleine klimatisierte Schlafzimmer unterm Dach. Es hat einen Balkon mit Ausblick auf die hellen Kalksteinhügel. Es scheint, als wäre gerade kein Leben möglich da draußen, außer der Grillen, die ohne Ende zirpen. Abends fahren wir zusammen mit Iro und einem Freund auf ein Openair-Musikfestival mit dem Namen Afrobanana. Dafür geht’s ins Dorf Pano Lefkara. Der idyllische und bei Touristen beliebte Ort liegt in den Ausläufern des Troodos-Gebirges. Seit unserer Abreise im April sitzen Micha und ich erstmals wieder in einem Auto und die 44 Kilometer weite Fahrt wirkt wie ein Katzensprung – die hügelige Landschaft fliegt an uns vorbei. In zwei Tagen werden wir sieben Stunden brauchen, um dasselbe Dorf mit dem Fahrrad zu erreichen. Denn es wird unsere nächste Etappe sein. Bis dahin sperrt uns allerdings die Hitze noch einen weiteren Tag lang ins Zimmer ein und schlägt plötzlich extrem auf unsere Stimmung. Seit drei Wochen stehen unsere Räder still und wir können es tagsüber draußen kaum aushalten. Wir fragen uns, wie die Radreise bei diesen Temperaturen weitergehen soll.
Am nächsten Morgen brechen wir um 4:50 Uhr auf. Ich fahre ungern im Dunkeln, aber die Sonne wird bald hinter den Bergen auftauchen. Es sind angenehme 24 Grad, doch nur 25 Kilometer später ist es schon wieder viel zu heiß. Der Anstieg nach Pano Lefkara beginnt. Zuerst geht es durch das Dorf Skarinou auf einer schmalen und sehr steilen Straße nach oben. Wir müssen absteigen und die schweren Räder schieben. Es kostet mich viel Kraft. Später auf den letzten Kilometern bis zum Tagesziel brauche ich in immer kürzeren Abständen eine Pause. Mein Kreislauf ist am Limit. Ich habe Hitze schon immer schlecht vertragen. Als ich vor Jahren anfing, in die Sauna zu gehen, wurde es besser. Aber gegen die zyprische Hitzewelle habe ich keine Chance. Auf der schattenlosen Asphaltstraße klettert unser Thermometer mittags auf 48 Grad.
Nach 930 Höhenmetern bergauf sind wir endlich da. Schnell Duschen, Schlafen und am Abend sind wir bereit für einen Spaziergang durch den hübschen Ort. Er ist für traditionelle Stickereien und Silberschmuck berühmt. In den Gassen treffen wir gleich auf mehrere Brautpaare, die sich professionell fotografieren lassen. Zypern gilt als Hochzeitsinsel. Jedes Jahr kommen etwa 5.000 Paare aus dem Mittleren Osten hierher, weil sie in ihrer Heimat aus religiösen Gründen nicht heiraten dürfen. Auf Zypern werden sie problemlos nach EU-Recht von einem Standesbeamten getraut.
Einen Tag später kommen wir nach vier Stunden Radfahren durch eine stille Berglandschaft in Zyperns Hauptstadt an: Nikosia glüht bereits, obwohl es erst halb zehn ist. Wir wohnen hier mitten in der kreisrunden Altstadt, die durch eine zackenförmige antike Stadtmauer eingerahmt wird. Mitten durch verläuft die „Green Line“ – eine Pufferzone der UN, die den Inselstaat Zypern einschließlich seiner Hauptstadt seit 1974 in den türkischen Norden und griechischen Süden teilt. Wir wohnen im südlichen Teil.
Nur 270 Meter von unserer Unterkunft entfernt befindet sich ein kleiner Grenzübergang, der 2008 eröffnet wurde und Fußgängern seitdem erlaubt, den jeweils anderen Teil der Stadt zu besuchen. Am nächsten Tag können wir schallende Rufe von Demonstranten hören. Es ist der 20. Juli und damit jährt sich zum 49sten mal die Invasion der türkischen Armee auf Zypern. Wir hören auch das Echo aus dem türkischen Teil. Polizisten schützen das Gebiet. Abends ist alles wieder ruhig. Nur einige Flugblätter, die an die Opfer von damals erinnern sollen, liegen noch auf dem Boden der Ledrastraße. Mit der Zeit möchten vor allem viele junge Menschen auf beiden Seiten der Insel den Konflikt endlich hinter sich lassen. Für sie ist es eine alltägliche Sache, über die Grenze zu gehen und dort Freunde zu treffen. Mit dem Personalausweis in der Hand laufen wir am Abend dann auch den kleinen weißen Containern des Grenzübergangs entgegen. Wir haben sofort Bilder von Berlin im Kopf. Checkpoint Charlie. So muss es sich damals angefühlt haben, von West- nach Ostberlin zu laufen. In Nikosia geht es allerdings nicht so streng zu. Die Beamten beider Seiten scannen unsere Ausweise. Das war’s. Direkt hinter der Grenze auf türkischer Seite sitzen junge Leute aus beiden Seiten der Stadt vor gemütlich beleuchteten Cafés und Restaurants zusammen und genießen den warmen Sommerabend. Im ersten Moment fühlt es sich an, als liefen wir durch eine virtuell erzeugte Welt. Als würden wir in einem Museum stecken. Von einem Konflikt ist überhaupt nichts zu spüren. Und trotzdem bleibt es eine geteilte Stadt mit Straßen und Gassen, die die sogenannte grüne Linie zerschnitten hat. Diese enden plötzlich mit einem Stück Wand aus gestapelten Ölfässern, einem mit Stacheldraht gekrönten Bretterzaun oder einem kurzen Stück Mauer, über die man unbeachtet in eine zugewucherte, verwaiste Pufferzone gucken kann. Soldaten sieht man kaum. Direkt entlang der Grenze befinden sich Cafés, Geschäfte und Wohnhäuser, als gäbe es die Teilung nicht. Die Menschen in Nikosia haben sich daran gewöhnt. Für uns bleibt es kurios und verrückt, auf diese Weise eine Stadt zu teilen. Da wir die Berliner Mauer niemals passieren konnten, als es sie noch gab, ist es gleichzeitig spannend und aufregend, so etwas zu sehen.
Bis zur nächsten Klimaanlage im Küstenort Girne auf türkischer Seite müssen wir nur 24 km radeln. Als hier endlich die Sonne untergeht, schlendern wir gemächlich die Hafenpromenade entlang. Wir laufen durch eine Wand aus feuchter Hitze und obwohl wir uns wenig bewegen, presst sich der Schweiß pausenlos durch die Haut. Girne ist ein beliebter und entspannter Urlaubsort. Der kleine Leuchtturm und das Meer, die Fischerboote am Hafen, dahinter die alte Burg und die Berge, kleine nette Einkaufsstraßen – das alles gibt ein richtig schönes Bild ab.
Nach zehn Tagen auf Zypern fahren wir in Girne zum Fährhafen, wo uns um elf Uhr ein Passagierboot nach Mersin aufs türkische Festland bringen soll. Die Tickets haben wir vor einer Woche im Internet gebucht. Danach hatte die Reederei wegen technischer Probleme plötzlich die Route um hundert Kilometer nach Taşucu verlegt, die Abfahrtzeit verschoben und einen Tag vor Abfahrt dann doch alles wieder rückgängig gemacht. Als wir am Hafen ankommen, klappt zum Glück alles reibungslos. Der Zoll und die Gepäckkontrolle winken uns freundlich durch. Micha schiebt beide Fahrräder über eine schmale Eisenrampe auf den Katamaran und wir verstauen unsere vielen Taschen in einer Ecke im Innenraum. Hier nehmen etwa 150 Passagiere in den engen Sitzreihen platz. Das Boot hat sichtlich schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel. Wir suchen unsere Sitze mit Nummer 6 und 7. Auf dem blauen Polster meines Sitzes zeichnet sich ein großer Fleck ab. Er riecht leicht nach Kotze und ich ahne, dass die Fahrt eventuell unangenehm wird. Zum Glück gibt es eine Reihe weiter noch zwei freie Plätze am Fenster. Fünfeinhalb Stunden wird die Überfahrt dauern und ich krame sicherheitshalber die Reisetabletten hervor. Eine gute Entscheidung, denn kurz nach Abfahrt wird das Meer immer unruhiger. Micha guckt durch das schmutzige Fenster auf das endlose Wasser. Er kann von hier das Lenkerende meines Fahrrads sehen, das ein Stück über die Railing ragt. Die Sonne hat die Fensterscheibe aufgeheizt und strahlt die Hitze nach innen ab. Trotz Klimaanlage ist es stickig im Boot. Der Katamaran bringt es auf 50 km/h und wiegt in alle Richtungen über die unruhigen Wellen. Ab und zu bäumt sich das Boot auf und schlägt danach aufs Wasser nieder. Mein ganzer Bauch kribbelt unangenehm. Ich höre schlimme Kotzgeräusche aus den Reihen hinter mir. Der absolute Horror, weil ich eine übersteigerte Angst vor dem Erbrechen habe. Die Tablette, die wir eingenommen haben, wirkt und hat uns beide schläfrig gemacht. Uns bleibt nichts weiter übrig, als die Augen zu schließen und diese Seefahrt über uns ergehen zu lassen. Nach etwa zwei Dritteln Fahrstrecke hat sich die Lage glücklicherweise beruhigt und unsere Fahrräder und wir kommen heil in Mersin an.
Obwohl wir uns in Mersin sofort wohl fühlen, kann ich es kaum erwarten, den Ort wieder zu verlassen. Wir müssen zu einer kühleren Jahreszeit wiederkommen. Nach nur einer Nacht wollen wir in den Bus nach Kayseri steigen – es ist eine Flucht aus der Hitze am Meer in die klimatisch erträglichere Mitte der Türkei. Wir besorgen uns noch einheimische SIM-Karten und dann müssen wir in der größten Hitze des Tages zehn Kilometer quer durch Mersin zum Busbahnhof radeln. Es geht stetig leicht bergauf und ohne mehrmalige Pausen ist es für mich nicht zu schaffen. Zusammen trinken wir fünf Liter Wasser auf der kurzen Strecke. Jeder Kilometer quält mich und ich kann sehen, dass sich Micha Sorgen um mich macht.
Wieder mal nass geschwitzt erreichen wir eine halbe Stunde vor Abfahrt den Bus – jetzt nur noch schnell klären, dass die Fahrräder mitkommen müssen. Für ein paar extra Lira kein Problem. Als alles im Kofferraum verstaut ist, plumpsen wir erleichtert in die bequemen Sitze des modernen Mercedes-Busses und staunen über den guten Service. Es gibt kostenlos Getränke, Snacks und Wifi an Bord. Und eine gut funktionierende Klimaanlage. Bloß schnell losfahren, denke ich. Und während wir sechs Stunden lang durch die karge, weitläufige Berglandschaft fahren, sinkt die Außentemperaturanzeige im Bus schrittweise von 39 Grad bis auf die Hälfte ab.
Hallo ihr beiden Weltenbummler, wir haben eine Weile nicht gelesen, erst heute haben wir eure Reise in die Türkei in Gedanken „mitgeschwitzt“.Auch wir sind unterwegs und schwitzen, aber das ist natürlich kein Vergleich mit euern Strapazen. Wir fahren mit eigenem Auto eine Osteuropatour, auch nur 5 Wochen. Über Österreich, Slowenien, Kroatien und Serbien sind wir jetzt in Bulgarien am Schwarzen Meer angekommen. Die Hitze hat das Besichtigen sehr erschwert, aber trotzdem ist es herrlich. Wir genießen jeden Tag und noch eine Woche das Meer, bevor wir uns über Rumänien Ungarn und Polen auf die Rückfahrt machen. Für euch weiter alles Gute! Peter und Ulla
Hallo Suse und Micha.
Irmi u ich waren auch schon auf Zypern u haben die Insel in guter Erinnerung. Damals war es noch verboten auf die Türkische Seite zu gehen. LG Irmi u Hans