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China (1): Fünf Tage in Tibet

Tibets übrig gebliebene Klöster werden durch Chinas Regierung strengstens überwacht und reguliert. Durch die Unterdrückung der Tibeter sei ihre Kultur mehr tot als lebendig – nur noch Fassade, eine hoffnungslose Situation. Fast hätte uns das davon abgehalten, das heilige Hochland zu besuchen. Am Ende sind wir froh, dort gewesen zu sein, denn Micha und ich waren tief beeindruckt von dem, was wir erlebt haben. Oder hat man uns eine Scheinwelt präsentiert?

25. Mai 2024, fünf Uhr morgens in Kathmandu. Micha und der Fahrer binden unsere Fahrräder auf die Dächer der beiden Jeeps, in denen wir heute 145 Kilometer zur Grenze nach Tibet fahren. Mit an Bord sind noch vier Backpacker, mit denen sofort die Chemie stimmt: Claire und Remi aus Südfrankreich sowie Metes und Alice aus Bonn. Wir sind schon sehr gespannt auf die andere Seite des Himalajas. Bisher hatten wir wegen der touristischen Auflagen und hohen Kosten eine Reise nach Tibet gemieden. Man darf Tibet nur als Gruppe von mindestens vier Leuten bereisen – begleitet von einem Tourguide aus Lhasa. Dieser wird heute auf chinesischer Seite der Grenze mit einem Kleinbus einschließlich Fahrer auf uns warten.
Saput, der Manager des Hotels in Thamel, in dem wir uns die letzten drei Wochen zuhause gefühlt haben, legt Micha und mir zum Abschied einen orangenen Khata um den Hals – mit dem buddhistischen Glücksschal wünscht er uns eine sichere Weiterreise. Vier Stunden lang fahren wir zunächst durch grüne Berge bis an die Grenze bei Rasuwa Gadhi. Am Ende poltern die Jeeps über einen holprigen Schotterweg. Der offiziellere Grenzübergang zwischen Nepal und Tibet liegt eigentlich viel weiter östlich, ist allerdings wegen Bauarbeiten seit des Erdbebens 2015 immer noch gesperrt.
Kurz vor der Grenze stehen dutzende fabrikneue Elektroautos aus China am Wegrand herum. Sie warten eingestaubt auf die Zollabfertigung und werden dann einzeln nach Kathmandu gefahren. Die Einfuhr von E-Autos wird in Nepal aktuell nur minimal versteuert, was sie im Vergleich zu anderen Fahrzeugen halbwegs erschwinglich macht.
Die Grenzabfertigung auf nepalesischer Seite wirkt improvisiert. Wir müssen nur die Reisepässe stempeln lassen. Zwei Kilometer weiter steht dann das überdimensionierte moderne Grenzgebäude der Chinesen wie ein Fremdkörper in der Berglandschaft. Davor wartet bereits unser gut gelaunter tibetischer Guide auf uns: Jamyang, 39 Jahre alt, groß, in Jeans, Lederjacke, Basecap und mit schicker Sonnenbrille. Obwohl das Grenzgebäude gewaltig ist, ist nur ein einziger Schalter besetzt. Die Einreisekontrolle zieht sich. Es werden alle zehn Finger eingescannt und die Bildergalerie auf dem Smartphone durchgescrollt. Ein Foto vom Dalai Lama wäre ein Grund, die Einreise zu verweigern.
Im bequemen Kleinbus geht es auf einem perfekt ausgebauten Highway durch das tibetische Hochland. Gleich drei Videokameras im Wagen überwachen, was im Bus passiert. Jamyang scheint das nicht weiter zu stören. Er wirkt gelassen. Die Straße verläuft den nächsten Tag über zwei Fünftausender Pässe. Auch wenn wir die dünne Luft deutlich spüren, wird zum Glück niemand höhenkrank. Am Horizont lässt sich bald der Mount Everest in der schneebedeckten Bergkette des Himalajas blicken. Ab und zu passieren wir Dörfer mit aufgereihten Wohnhäusern, die alle gleich aussehen: rechteckig, flach, sandfarben und mit Vorhängen an Türen und den bunten Fensterrahmen.

Die zweite Nacht verbringt unsere Truppe in Shigatse. Es ist die zweitgrößte Stadt Tibets und liegt 273 Kilometer von Lhasa entfernt auf 3.800 Metern. Als wir am frühen Abend durch die Straßen spazieren, sind Micha und ich fasziniert von den Menschen und ihren Gesichtern. Die Mehrheit der Tibeterinnen und Tibeter sind traditionell gekleidet und haben ihre langen, dunklen Haare zu Zöpfen geflochten. Männer wie Frauen tragen bunte Ohrringe, Schmucksteinketten und verzierte Gürtelschnallen. Jamyang sagt, dass es erstaunlich sei, wie viele Gemeinsamkeiten es zwischen Tibetern und den indigenen Völkern in Nordamerika gibt. Wir finden die Ähnlichkeit auch beeindruckend.
Am nächsten Morgen folgen wir den Menschen auf das riesige Gelände des Tashi Lhunpo Klosters. Der erste Dalai Lama ließ es vor 577 Jahren als Residenz des Panchen-Lamas bauen. Mehrere tausend Mönche sollen hier gelebt haben, heute sind es noch um die neunhundert. Zwei Stunden lang streifen wir zwischen den vielen weißen Gebäuden mit großen dunklen Holzfenstern umher. Micha und ich sind berührt von der speziellen Atmosphäre und der Schönheit der bunten Tempel. In einem der Tempel entdecken wir eine gewaltige vergoldete Buddhastatue, 26 Meter hoch. Die aufwändige Dekoration im Innern wird dominiert von den fünf Farben Tibets, wie man sie von den Gebetsfahnen kennt. Diese Tradition stammt noch aus der naturnahen Bon-Religion, die bis zum 7. Jahrhundert in Tibet verbreitet war, bevor der Buddhismus eingeführt wurde. Die Farben symbolisieren die fünf Naturelemente: Blau für den Himmel, Weiß für die Luft, Rot für das Feuer, Grün für Wasser und Gelb für die Erde.
Auf der Eingangstreppe eines anderen Tempels im Kloster stehen unzählige Paare weinroter Filzstiefel. Es sind die Schuhe der Mönche, die drinnen die Morgenzeremonie abhalten – mit dumpfen Trommeln, lauten Schellen, Trompeten und tiefem Sprechgesang. Wir beide setzen uns neben die große Holztür, lauschen den typischen Klängen Tibets und beobachten die Menschen, die in den Tempel kommen. Ich muss an den Spielfilm Sieben Jahre in Tibet denken. Schade, dass wir nicht die Zeit haben mit den Menschen länger ins Gespräch zu kommen und die beeindruckenden Gesichter Tibets mit der Kamera festzuhalten.
Auch wenn das Kloster in Shigatse mit etlichen Videokameras überwacht wird, wirkt es auf uns wie ein ganz normaler Ort im Alltag der Tibeterinnen und Tibeter. Wir haben hier ausschließlich Einheimische gesehen und das machte den Besuch sehr authentisch und besonders. Was die Tibeter darüber denken, haben wir leider nicht erfahren.


Am dritten Tag kommen wir in Lhasa an. Die schöne Stadt wirkt lebendig und modern. Die Straßenzüge in der Stadtmitte haben Fenster und Fassaden im tibetischen Stil. Obwohl Lhasa auf 3.650 Metern liegt, ist es tagsüber unter der späten Maisonne mit um die 35 Grad erstaunlich heiß.
Zusammen mit Jamyang besichtigen wir am nächsten Morgen drei Stunden lang die Räume des gewaltigen Potala Palastes – genau wie etliche chinesische Reisegruppen. Die Einlasskontrolle ist strenger als an einem Flughafen.
Im Palast scheint es, als habe man hier seit der Flucht des Dalai Lamas kaum etwas verändert. Und schon wieder habe ich Szenen aus dem Tibet-Film vor Augen. Vor dem Hintergrund der Lage in Tibet kommt uns der verlassene Ort unwirklich vor. Fasziniert betrachten wir die alten Möbel des Dalai Lamas, seinen Thron und die prunkvollen religiösen Schätze.
In der Altstadt von Lhasa laufen in der Nachmittagssonne hunderte Pilger um den Jokhang-Tempel oder absolvieren die sogenannte Kora, indem sie sich mit ausgestreckten Armen auf den Boden legen. Mütter haben ihre kleinen Kinder mit einem Strick an ihren Körper gebunden, damit sie während der Umrundung nicht in der Menschenmenge verloren gehen. Für die meisten Tibeter ist der Jokhang-Tempel die wichtigste religiöse Stätte, vergleichbar mit dem katholischen Petersdom oder der Kaaba in Mekka. In seinem Innersten ist der dunkle Tempel voller alter Schätze – große schmuckvolle Buddhas, Goldfiguren und bunte Seidenstoffe. Hier befindet sich auch die heiligste Buddhastatue Tibets. Es riecht nach altem Holz und Butterlampen. Durch den Tempel zu laufen fühlt sich an, als ist man in einer anderen Welt und Zeit.
Draußen sitzen Micha und ich noch eine ganze Weile auf dem warmen, glänzenden Steinboden und beobachten die tibetischen Pilger bei der Umrundung des Tempels. Es ist früh am Abend. Das Sonnenlicht wird langsam sanfter. Ein Mann setzt sich neben uns und streichelt Micha über den Unterarm. Er staunt über die vielen Haare auf seiner Haut.


Am fünften Tag müssen wir Tibet nachmittags leider schon wieder verlassen – und zwar mit der Lhasa-Bahn. Es ist der einzige Zug, der aus Tibet herausführt. Unsere Fahrräder und den Großteil des Gepäcks haben wir gestern bereits mit China Railway Express vorausgeschickt. Am Bahnhof verabschieden wir uns von Jamyang und danken ihm für seine offene Art. Er würde auch so gerne reisen und die Welt sehen, so wie wir. Nur leider darf er als Tibeter sein Land nicht verlassen – seit Jahren werden ihnen keine Reisepässe mehr ausgestellt.
Die Fahrt im ausgebuchten und bequemen Nachtzug dauert 21 Stunden und endet in Xining, der Hauptstadt der Provinz Qinghai. Die mehr als 1.900 Kilometer lange Strecke ist die höchstgelegene Bahnfahrt der Welt. Irgendwann nachts überqueren wir den 5.072 Meter hohen Tanggula-Pass. Wegen der extremen Höhe gibt es sogar Sauerstoffanschlüsse in den Abteilen.
Während der Fahrt haben Micha und ich Zeit, über das Erlebte nachzudenken. Auf uns wirkten die Orte und Menschen in Tibet authentisch. Wir sind froh, die tibetische Kultur so hautnah und lebendig erlebt zu haben. Allerdings ist uns auch klar, dass wir kaum etwas vom echten Leben der Tibeter mitbekommen konnten. In fünf Tagen haben wir gerade mal durch einen Türspalt geguckt. Gerne hätten wir noch andere Orte im weiten Hochland abseits touristischer Pfade besucht.

30. Mai 2024. Der Zug kommt pünktlich auf die Minute am großen Bahnhof in Xining an. Zwei Tage später trennt sich unsere kleine Reisegruppe: Metes und Alice reisen nach Laos weiter. Remi und Claire treffen wir in drei Wochen in Kashgar wieder, um gemeinsam nach Kirgistan auszureisen. Micha und ich setzen uns nach über zwei Monaten endlich wieder auf die Fahrräder. Wir haben so Lust, draußen unterwegs zu sein und sind gespannt, was uns Chinas Mitte zu bieten hat. Nur leider kommt es anders, als gedacht.

Ein Gedanke zu „China (1): Fünf Tage in Tibet“

  1. servus Ihr Lieben,
    vielen Dank für Euren neuen Reisebericht. Hochinteressant, es bleiben viele Fragen zur Lage dieses Volkes.
    Ich wünsche Euch eine gute weitere Reise, die unvergesslich bleiben wird.
    Liebe Grüße Pit

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