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China (2): Zwangspause auf der Seidenstraße

Nach mehreren Monaten können wir endlich wieder genüsslich im Zelt schlafen. Darauf haben wir uns schon länger gefreut. Und darauf, dass wir erstmalig ohne Guide durch China reisen können. Bei vorherigen Reisen auf unseren MZ-Motorrädern mussten wir wegen strenger Regularien ein teures Begleitfahrzeug mit Guide beauftragen. Das ist bis heute so.
Das sommerliche Wetter ist gerade sehr angenehm. Dreißig Tage haben wir nun Zeit, um durch die nördliche Mitte Chinas zu radeln – genauer gesagt, durch die Provinz Gansu. Die Region ist ein bedeutender Ort chinesischer Geschichte und war außerdem mit Oasen-Stätten am Rande der Wüste Gobi Ausgangspunkt der legendären Seidenstraße. Bedauerlicherweise ist unser Chinatraum nach gerade mal zwei Nächten unter freiem Himmel auch schon wieder vorbei.

4. Juni 2024. Nach einer verregneten zweiten Nacht im Zelt auf einer Viehweide am Baoku-Fluss packen wir bei Sonnenschein unsere Sachen ein und starten in eine Bergpass-Etappe. Auf der Straße G227 geht’s hoch bis auf 3.800 Meter. Micha hat sich vor kurzem eine Erkältung eingefangen und die schlägt plötzlich heftig zu. Er braucht in immer kürzeren Abständen eine Pause und legt sich neben sein Fahrrad auf den Boden. So kraftlos hab ich Micha selten gesehen. Vier Kilometer vor dem Pass geht dann gar nichts mehr. Nachdem mehrere LKWs an meinem ausgestreckten Daumen vorbeigefahren sind, hält ein junges Paar mit einem kleinen Pickup an, mit dem sie normalerweise Schafe transportieren. Sofort hilfsbereit verschnüren sie beide Fahrräder mit Seilen auf der Ladefläche, bringen uns über den Pass und noch etwa zwanzig Kilometer vor ein Hotel bis in die nächste Kleinstadt: Qingshizuizhen.
Die Lobby des Hotels ist etwas eingestaubt und wirkt so, als wäre sie gerade nicht in Betrieb. Leider kann man uns kein Zimmer geben. Wir versuchen es gegenüber bei einem neugebauten Restaurant. Dort sind alle sehr erfreut über unseren Besuch, aber auch etwas ratlos. Sie bringen erstmal Tee und bitten uns, zu warten. Nach etwa zehn Minuten steht dann plötzlich die Polizei vor der Tür. Wir sind unwissentlich in einem tibetisch-autonomen Bezirk unterwegs, der für Ausländer gesperrt sei. Alle sind sehr nett und überlegen sich eine Lösung. Micha braucht auf jeden Fall dringend ein Bett.
Am Ende fahren uns zwei Polizisten mit dem Pickup des Restaurantbesitzers achtzig Kilometer bis an die Grenze des Bezirks nach Ebao. Von dort geht’s im Taxi-Van nochmal fünfundsechzig Kilometer in ein großes Vier-Sterne-Hotel nach Minle. Es kostet nur 30 Euro die Nacht.
Wir sind froh, dass wir uns endlich ausruhen können. An unserem Zimmerfenster im 15. Stock gucken wir auf einen großen Sportplatz und viele neue Wohnblöcke. Hinter der Stadt wird es grün und schnell bergig. Wie viele Städte in China wurde Minle scheinbar auf dem Reißbrett geplant und großzügig ausgebaut – breite, lange Straßen mit wenig Verkehr durchziehen den Ort. Die Einwohner wirken etwas verloren in der Großräumigkeit. Da Scooter und Autos fast alle elektrisch fahren, ist es zudem ungewöhnlich leise in den Straßen. Es gibt unzählige Geschäfte – von winzigen Tante-Emma-Läden bis hin zu schicken Boutiquen. Es scheint viel zu viele Geschäfte zu geben für die vergleichsweise wenigen Leute die hier leben.


Micha ist leider richtig krank geworden. Er liegt seit einer Woche mit wiederkehrendem Fieber im Hotelbett und quält sich mit starkem Husten. Er hat sich noch nie so schwach gefühlt. Wir haben unser Notfall-Antibiotikum im Einsatz, aber es deutet sich nur ganz langsam eine Besserung an. In solchen Momenten fragt man sich natürlich, wie die Reise weitergehen soll.
Plötzlich stehen schon wieder drei Polizisten in unserem Hotelzimmer und stellen via Übersetzer-App alle möglichen Fragen. Sie wundern sich darüber, warum zwei Ausländer so lange in Minle verweilen – und tatsächlich sind wir bisher keinem anderen Touristen begegnet. Die Polizei ist sehr höflich und wünscht uns, dass wir bald gesund mit den Rädern weiterreisen können. Der letzte Satz, den sie uns zum Abschied auf dem Smartphone entgegenhalten, lautet: „You guys are amazing!“
Ich habe mich mittlerweile bei Micha angesteckt, aber mich erwischt es zum Glück nicht so schlimm. Als Micha nach zehn Tagen immer noch nicht wieder richtig auf den Beinen ist, gehen wir sicherheitshalber zum Arzt ins Krankenhaus. Dort wird er auf der Stelle untersucht und nach nicht mal einer Viertelstunde haben wir dank Lungen-CT und Bluttest eine Diagnose: Lungenentzündung. Der Arzt empfiehlt Micha, sich achtzig Kilometer entfernt im Volkskrankenhaus in Zhangye behandeln zu lassen – die Stadt liege 800 Meter tiefer und sei deswegen besser für die Genesung. Wir packen also kurzerhand unser Zeug im Hotel zusammen. Die junge Dame von der Rezeption besorgt ein großes Taxi und begleitet uns sogar.
Auch in Zhangye wird Micha von den Ärzten und Krankenschwestern bestens behandelt. Er liegt im 20. Stock in einem modernen Einzelzimmer. Durch den Schlauch tropft Antibiotika in seinen linken Arm. Ich bin beruhigt, als es ihm jeden Tag besser geht und besuche derweil den über 900 Jahre alten Dafo-Tempel mit der größten liegenden Buddha-Statue Chinas – 34,5 Meter lang. Zhangye war früher eine wichtige Station auf der antiken Seidenstraße. Marco Polo soll hier auf seiner langen Reise durch Asien und China ein Jahr lang Halt gemacht haben, um den Alltag der Menschen zu studieren. Heute erinnert eine große Steinstatue mitten in der Stadt an den berühmten Entdecker.
Michas Blutwerte haben sich nach vier Tagen fast wieder normalisiert und er darf endlich zu mir ins Hostel umziehen. Die gute Behandlung mit all ihren Untersuchungen und Medikamenten war mit rund 500 Euro erstaunlich günstig. Bis Micha wieder aufs Fahrrad kann, dauert es allerdings noch. In drei Tagen werden wir daher zweieinhalb Stunden mit dem Schnellzug bis Yumen weiterreisen. Von dort nehmen wir später den Nachtzug nach Kashgar. Unsere Fahrräder mit dem Großteil des Gepäcks bringen wir in Zhangye zum Bahnhof und schicken alles mit China Railway Express direkt nach Kashgar voraus. Das klappt reibungslos und kostet nicht viel. Vorher wird der Inhalt aller Taschen genau untersucht.
Um zurück ins Reisefeeling zu kommen, machen Micha und ich im Minibus einen Ausflug in die nahegelegenen Regenbogenberge – eine Felslandschaft, die für ihre besonderen Farben berühmt ist und unzählige Besucher anlockt. Über Millionen von Jahren formte das Wetter den roten Sandstein und seine Sedimente zu einer Landschaft mit unterschiedlichen Mustern, Formen und Farben. Es tut gut, wieder in der Natur zu sein und diese geniale Landschaft zu bestaunen. Auch wenn sich die Sonne hinter dicken Wolken versteckt hat.


Wir sind jetzt in der Kleinstadt Yumen. Die Sonne scheint mit 35 Grad Celsius grell auf den Beton. Ein kräftiger, staubtrockener Wind bläst durch die breiten Straßen und grünen Bäume. Wir machen lange Spaziergänge im riesigen modernen Park der Stadt und Michas Energie kehrt endlich zurück. Vielleicht auch dank der leckeren handgezogenen Nudeln, die hier im Norden Chinas vor Ewigkeiten erfunden wurden: Lamian. Dafür braucht man starke Arme, um den Teigklumpen zwischen den Händen solange auseinander zu ziehen und immer wieder zu teilen, bis daraus meterlange Spaghetti entstehen.
In ein paar Tagen müssen wir China verlassen und die Grenze nach Kirgistan ist von Yumen aus noch über 2.300 Kilometer entfernt. Wir steigen in Yumen ein drittes Mal in den Zug. Chinesische Bahnhöfe sind übrigens genauso bewacht und organisiert wie ein Flughafen. Beim Eintritt ins Gebäude werden Ausweis, Ticket und Gepäck kontrolliert. Die Fahrgäste dürfen erst kurz vor Ankunft des jeweiligen Zuges auf den Bahnsteig. An der Zugtür kontrollieren die Zugbegleiter dann ein drittes Mal.
Unser Nachtzug von Yumen über Hami nach Kashgar ist fast 24 Stunden unterwegs. Alle Liegen im Abteil sind belegt. Es riecht nach Instant-Nudelsuppe und Zigarettenrauch. Zwar ist Rauchen offiziell im Zug verboten, aber vor der Toilette steht immer einer, der es ohne Zigarette nicht aushält.
An den Zugfenstern zieht diesmal die graugetönte Taklamakan vorbei. Tagsüber spüren wir die Hitze der berüchtigten Wüste an den Scheiben des klimatisierten Abteils. Da draußen sind es weit über fünfzig Grad und ich stelle mir vor, wie die Karawanen der alten Seidenstraße mit ihren Kamelen durch das lebensfeindliche Gebiet wanderten. Neben der extremen Temperaturen sollen schwarze Sandstürme, die den Himmel komplett verdunkelten, die gefürchtetste Gefahr der Taklamakan gewesen sein. Viele Karawanen wurde dabei einfach ausgelöscht. War der Transport erfolgreich, dauerte es bis zu zwei Jahre, bis die Waren von China ans Mittelmeer gelangten. Immerhin über sechstausend Kilometer.
Am späten Nachmittag steigen Micha und ich in Kashgar aus dem Zug. Es ist sonnig und heiß. Wir holen unsere Fahrräder beim CRE-Gebäude um die Ecke ab und fahren sieben Kilometer in die Mitte der Stadt, wo wir Remi und Claire im Hotel wiedertreffen. Übermorgen endet unser Gruppenvisum für China und wir müssen gemeinsam mit ihnen nach Kirgistan ausreisen. Die beiden waren die letzten drei Wochen mit dem Zug bis ans andere Ende von China und dann etappenweise nach Westen zurück gereist.
Abends schlendern wir zu viert durch die aufwändig umgebaute Altstadt von Kashgar. Die chinesische Regierung hat in den letzten Jahren viel in den Ort investiert und die Hauptstadt der Uiguren komplett verändert. Die Altstadt wurde dabei recht stilvoll hergerichtet, aber es handelt sich vor allem um Fassaden. Der echte Charme ist längst verschwunden. Durch die hübschen Gassen spazieren heute täglich tausende chinesische Touristen – vorbei an bunten Souvenirgeschäften und uigurischen Straßenrestaurants, die Grillrauch und den Duft von Hammelfleisch verströmen. Auffällig beliebt bei den chinesischen Touristen sind Fotosessions in traditioneller uigurischer Kleidung – alles sehr schick und professionell in Szene gesetzt. Wir laufen an mehreren Shops vorbei, die diesen Service anbieten.

26. Juni 2024. Um von Kashgar nach Kirgistan zu kommen, müssen wir vier ein passendes Taxi organisieren, das uns morgen mit dem ganzen Gerödel an die Grenze von Irkeschtam bringt. Das Grenzgebiet westlich von Kashgar ist Hochsicherheitszone und wird stark bewacht. Es gibt mehrere Kontrollpunkte und nur legitimierte Fahrzeuge dürfen bis an die Grenze fahren. Der Agent, der uns das Taxi vermittelt, schickt uns außerdem noch in eine Behörde nahe des Flughafens, wo wir uns einen sogenannten Borderpass ausstellen lassen sollen.
Am nächsten Morgen baut Micha beide Vorderräder aus, damit alles ins Auto passt. Anders als besprochen, stellen wir nach hundert Kilometern am ersten Kontrollpunkt in Uluquat fest, dass der Taxifahrer leider doch keine Genehmigung fürs Grenzgebiet hat. Wir vier müssen das komplette Gepäck scannen lassen und uns für die restlichen 140 Kilometer zur Grenze in ein neues Taxi quetschen. Immerhin ist die bergige Landschaft ein Traum und die Straße führt gemächlich hoch auf kühlere 2.800 Meter.
An der eigentlichen Grenze angekommen werden wir von einer freundlichen Beamtin in gebrochenem Englisch interviewt: Welche Orte wir in China bereist haben. Wie uns China gefallen hat. Und so weiter. Danach dürfen wir in einem extrem verstaubten Gebäude die Ausreisestempel abholen, müssen für zwei Kilometer ein drittes Mal den Wagen wechseln und werden auf einer Schotterstraße durchs Niemandsland gefahren. Dann setzt man uns kurz vor dem kirgisischen Grenzposten am Stacheldrahtzaun aus.
Mittlerweile ist es später Nachmittag. Wir verabschieden uns hier im Nirgendwo mit einer festen Umarmung von Claire und Remi, machen in Ruhe beide Reiseräder startklar und passieren in nur wenigen Minuten die kirgisische Immigration, wo man uns herzlich begrüßt. Danach radeln wir zunächst an einer langen LKW-Schlange vorbei. Endlich. Endlich sind wir frei und zurück auf dem Rad! Und gerade als ich mich freue, zischt Luft aus meinem Vorderreifen.

Ein Gedanke zu „China (2): Zwangspause auf der Seidenstraße“

  1. Hallo Ihr Lieben,
    Mit Freude, Begeisterung und Bewunderung habe ich Euren neuen Bericht gelesen. Tol, wie Ihr alle unerwarteten Probleme meistert und nicht die Freude und Aufgeschlossenheit verliert.
    Ich bin ein Fan Eurer Tour, leider zu alt dafür.
    Alles Gute und ich drücke die Daumen, dass gut weitergeht.
    Liebe Grüße Pit

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