Vor fünfzehn Jahren waren Micha und ich das allererste mal in Indien. Dabei hatten wir auch einen Teil der Westküste auf unseren DDR-Motorrädern bereist. Die Hoffnung, dass die Küstenroute mit Fahrrädern genauso schön sein könnte, wurde nicht enttäuscht. Im Gegenteil. Nie haben wir Indien so pur und entspannt erlebt. Da kann selbst eine Zugfahrt, bei der Einiges schief läuft, nicht unsere Laune verderben.
13. November 2023. Mumbai liegt hinter uns. Nach einer Stunde auf dem Boot sind wir plötzlich im Grünen. Das Ufer in Mandwa ist gesäumt von Palmen und anderen tropischen Bäumen. Auf dem Wasser liegen kleine Fischerboote und die sanfte Morgensonne schimmert um sie herum. Am Bootsanleger führt eine schmale Straße vom Ufer weg – beidseitig Buden, die Getränke, Snacks und Krams anbieten. Jetzt am Morgen ist kaum was los hier, aber der Rummel startet noch. Mandwa ist für Mumbai das Tour zur Küste. Besonders in der Woche nach Diwali fahren viele Familien für ein paar Tage an die Strände südlich der Stadt. Nicht gerade die günstigste Zeit, denn viele Unterkünfte werden ausgebucht sein.
Es ist ein richtig gutes Gefühl, zurück auf der Straße zu sein. Der Weg ist asphaltiert, schmal und schattig. Anfangs düsen noch Autos oder Rikschas mit Urlaubern an uns vorbei. Doch je weiter wir uns vom Fähranleger entfernen, desto ruhiger wird es. Wir genießen die Fahrt, obwohl es heiß ist. An meinem Lenker hängt ein kleines Tuch, mit dem ich mir die Schweißtropfen vom Gesicht und den Unterarmen wische. Ich würd gern wissen, wie viele Eimer ich auf dieser Reise schon ausgeschwitzt habe.
Im Fischerdorf Akshi finden wir mittags versteckt im Grünen unsere erste Unterkunft. Das Homestay liegt unter dem Schatten hoher Kokospalmen. Geflochtene Fischerkörbe und kleine Plastiktonnen stehen auf dem gelbsandigen Boden neben dem Haus. Zwischen den Palmen hängt bunte Wäsche auf der Leine. Wir beziehen oben im Haus ein Zimmerchen mit hübsch dekorierter Terrasse – ein kleines Paradies. Abends etwa halb sieben ist die Sonne verschwunden und im Dorf flackern Öllämpchen an Wegrändern und vor Hauseingängen. Mandalas aus weißem oder gefärbten Sand verzieren den Boden. Große Lampions und grelle Lichterketten ranken an Dächern und Fassaden. Das Diwali-Fest symbolisiert den Sieg des Lichtes über die Dunkelheit – des Guten über das Böse. Überall in Indien zelebrieren Hindus, Jains und Sikhs diese Zeit mit ihren eigenen Ritualen.
Morgens klingelt kurz vor fünf der Wecker. Leise packen wir unseren Kram zusammen und verlassen im Stockdunkeln das Dorf. Die Luft ist warm. Eine fette Kröte hüpft im Lichtkegel meiner Fahrradlampe über den Weg. Müde Hunde liegen eingerollt am Straßenrand. Sie heben nicht mal Kopf oder Ohren an, wenn wir an ihnen vorbeikommen. Ab und zu überholt uns ein Motorrad oder kleiner Lastwagen. Nach einer Stunde auf der dunklen Straße färbt sich der Himmel allmählich dunkelblau und die schwarzen Silhouetten der Palmenwälder hellen etwas auf. Bald steigt die Sonne als sanfter rosaroter Ball in den diesigen Himmel und in den Dörfern beginnt der Alltag.
Jetzt hört man überall das typische Kratzen der harten Handbesen – gebunden aus vertrockneten aufgeschlitzten Palmblättern – mit denen Laub und Müllschnipsel vor den Häusern weggefegt werden. In den Tempeln erklingen Glöckchen oder Gesänge. In den Teebuden köchelt es auf dem Herd und die ersten Gläschen Chai werden verkauft. An manchen Ecken kokeln kleine Müllhaufen vor sich hin und der stinkende Rauch zieht über die Straße.
Die nächsten fünfhundert Kilometer werden wir an der Konkanküste entlang bis ins Touristenmekka Goa reisen. Bis dorthin sind die Straßen sehr hügelig – jeden Tag müssen wir mehrere hundert Höhenmeter rauf und runter radeln. Die Strecke bietet immer wieder Ausblicke aufs Arabische Meer, von dem tagsüber allerdings keinerlei Brise weht. Um der größten Hitze zu entkommen, werden wir nur von ganz früh bis spätestens zwölf Uhr unterwegs sein.
Als wir am zweiten Tag in der Mittagshitze im Dorf Diveagar eintrudeln, gibt es dort zwar eine Unmenge Unterkünfte, aber wegen der Diwali-Ferien kein freies Zimmer mehr. Gefühlt haben wir uns durch den ganzen Ort gefragt. Jetzt sitzen Micha und ich neben unseren Fahrrädern ermattet und lustlos an der Straße, als uns eine Urlauberfamilie aus Pune anspricht. Sie rufen das Restaurant an, in dem sie gerade Mittag gegessen haben, um nach einer Bleibe zu fragen. Tatsächlich klappt es. Die beiden älteren Herren im „Trekkers & Travelers“, die selbst gerne reisen, nehmen uns sofort auf, geben uns Essen und ein einfaches Zimmer. Als wir die Rechnung begleichen wollen, lachen sie nur. „Wer von soweit auf dem Fahrrad kommt, ist eingeladen!“
Das nächste Küstendorf, das wir ansteuern, ist Kelshi. Kurz vor dem Ort schlängelt sich eine Schlange über die schmale, schattige Straße. Als wir anhalten, bäumt sie sich auf, spreizt drohend ihren Nacken und starrt uns an. Noch nie haben Micha oder ich eine Cobra in freier Wildbahn gesehen. Und schon zischt sie davon.
Kelshi erscheint uns wie ein Dorf aus dem Bilderbuch. An den schmalen Straßen und Wegen stehen kleine zweistöckige Wohnhäuser mit teils bunt verzierten Veranden oder Holzbalkonen. An jeder Ecke blühen Büsche. Hohe Palmen sowie kräftige Mangobäume spenden Schatten. In der Dorfmitte reihen sich bunte Krämerläden und Gemüsestände aneinander. Affen hangeln über die Stromleitungen. Die kleinen Reisfelder des Dorfes wurden gerade abgeerntet. Es wirkt alles sehr friedlich und aufgeräumt.
Wir kommen im Haus der Jain-Familie Kothari unter und sind glücklich, dieses besondere Dorf entdeckt zu haben. Zweimal am Tag verwöhnt uns die Familie mit leckerem Essen auf Bananenblättern. Jains kochen streng vegetarisch und verzichten dabei auch auf Eier sowie Gemüse, das unter der Erde wächst. Nach drei Tagen haben wir uns sehr gut erholt. Andere Touristen haben wir in der Zeit nicht getroffen, nur ein paar indische Besucher.
Wir erleben Indien diesmal anders als sonst. Vielleicht, weil wir mit Fahrrädern auf kleineren Straßen und langsamer unterwegs sind. Weil wir durch mehr kleine Orte kommen und dort in Gasthäusern mit Familienanschluss übernachten. Oder weil wir den Menschen radelnd noch direkter begegnen. Jeden Tag schauen Micha und ich in erstaunte und lächelnde Gesichter. Unsere Gefährte werden immer wieder interessiert begutachtet. Viele sind einfach nur begeistert, dass wir auf dem Fahrrad so weit reisen. Einige können kaum glauben, dass da keine Batterie versteckt ist. Wenn wir mal wieder einen längeren oder steilen Anstieg bewältigen müssen, fährt meistens irgendeiner an uns vorbei, der uns freudig den Daumen entgegenstreckt, ein lautes Hello zuruft oder vor lauter Winken fast vom Moped fällt. Meistens dreh ich mich dann zu Micha um und wir grinsen vor Freude.
In der Früh, wenn wir losfahren, ist es oft besonders schwül. Der Nebel hängt in den Tälern und im Dschungel fest. Sobald die Sonne aufgeht, fährt es sich am angenehmsten. Aber nur solange, bis sie ihre Hitze abstrahlt.
Auf dem Weg nach Devgad finden wir erst sehr spät eine Möglichkeit, etwas zu frühstücken. Oft ist das ein Omelette am Straßenrand, dazu ein indischer Tee oder eine Kokosnuss. Micha gönnt sich diesmal noch eine kleine Flasche „Latte Macchiato“, die er im Kühlschrank eines kleinen Verkaufsstandes entdeckt. Kurz danach wird ihm übel auf dem Fahrrad. Später im Gasthaus hängt er sich über die Kloschüssel. Am nächsten Morgen ist wieder alles in Ordnung und wir fahren hinunter durch das hübsche Dorf zum kleinen Strand. Der gelbe Sand ist sauber, das Meer schimmert türkis. Micha und ich sind an diesem Morgen die einzigen Besucher und haben das erste mal Lust, ins Wasser zu gehen. Das Meer ist sehr warm.
Ein paar Strände und Küstendörfer weiter haben wir nach insgesamt zwei Wochen Goa erreicht. In Benaulim treffen wir Josch und sein Motorrad wieder. Wir hatten uns im Sommer am Vansee in der Osttürkei kennengelernt. Nun verbringen wir wieder eine sehr entspannte Woche zusammen. Josch ist ein feiner Kerl und es macht Spaß, seine Lebensgeschichten zu hören.
Wir fühlen uns sehr wohl in Benaulim – ein hübsches, ruhiges Dorf und viel Grün. Jeden Abend beobachten wir die Fischer und ihre Helfer, wie sie am Strand riesige Netze per Hand aus dem Meer ziehen oder die Holzboote zurück ins Wasser wuchten. Oft sind es zu wenig und kleine Fische, die im Netz landen. Goa und seine traditionellen Fischer haben es schwer heutzutage. Große Trawler überfischen das Meer. Dazu kommen Probleme wie Plastikmüll im Wasser oder die Auswirkungen des Klimawandels.
Als unsere Fahrradreise gen Süden weitergeht, erschreckt mich Micha mitten auf der Landstraße mit einem plötzlichen „Ach Du Scheiße!“ Sein Rahmen ist vor der Radaufhängung gebrochen – an der Stelle, wo der Fahrradständer befestigt ist. Wir fahren vorsichtig weiter und finden nach ein paar Kilometern am National Highway eine Werkstatt mit Schweißgerät. Es ist eine kleine Bude, in der zwei Männer in der Hocke gerade an einem großen Fenstergitter schweißen. Die beiden wollen direkt loslegen, als Micha ihnen den Riss im Stahl zeigt. Da ist das Hinterrad noch nicht ausgebaut. Micha kann sie gerade noch stoppen, bevor die Funken sprühen. Als der Rahmen freiliegt, geht’s los. In einer halben Stunde ist die Stelle repariert und die Fahrt kann weitergehen.
Die Küste ist ab jetzt flach und nach siebzig Kilometern kommen wir im Pilgerdorf Gokarna im Bundesstaat Karnataka an. Hier herrscht ein buntes Treiben vor den kleinen alten Tempeln mitten im Ort – genau wie damals, als wir schon einmal hier waren. Gokarna bedeutet Kuhohr. Angeblich soll Shiva hier aus dem Ohr einer Kuh herausgekommen sein. Zusammen mit ein paar heiligen Kühen mischen wir uns unter die vielen Pilgerinnen und Pilger, die die engen Straßen in leuchtenden Saris und weißen Dhotis, dem Wickelrock der Männer, durchstreifen. Trotz der Menschenmenge herrscht eine entspannte Atmosphäre an diesem historischen Ort. Alle sind gekommen, um ihre wichtigsten Hindugötter zu ehren.
Ein Kuhsprung von Gokarna entfernt radeln wir dann auf die gewaltige Shiva-Statue am Strand von Murdeshwar zu. Es ist die weltweit zweitgrößte Skulptur des Hindugottes. Als Eingangstor dient ein zwanzigstöckiger Tempel, der vor etwa 15 Jahren erbaut wurde. Bevor wir die Statue erreichen, kommen wir zunächst durch ein kleines Viertel am Rande von Murdeshwar, das auffallend schöne alte Häuser hat. Die Frauen auf der Straße sind in schwarze Tschadors gehüllt. Die Männer tragen lange Bärte und weiße Kappen. Auf unserem Weg an der Küste entlang kommen wir immer wieder durch muslimische Siedlungen. Und nicht selten ertönt der Ruf eines Muezzins.
Murdeshwar selbst ist kein hübscher Ort – pragmatisch zugebaut mit Unterkünften, Shops und kleinen Restaurants. Die Hauptstraße ist staubig und die kleine Uferstraße stellenweise zugemüllt. Wegen Shiva kommen täglich busweise indische Touristen an. Bei der Suche nach einem ruhigen Gasthaus landen Micha und ich etwas abseits des Trubels beim Amani Beach Homestay. Es ist etwas teurer, aber als der Manager sieht, dass wir auf Fahrrädern anreisen, bietet er uns sofort sein bestes Zimmer an – und das sogar kostenfrei.
Auf unserem Weg durch Karnataka kommen wir dann endlich auch in der Kleinstadt Udupi an. In Mumbai hatte jeder von dem guten Essen in Udupi geschwärmt. Vor allem aber müssten wir unbedingt auch den berühmten Krishna-Tempel aus dem 13. Jahrhundert besuchen. Dort soll es die schönste Abbildung vom Gott mit der Flöte geben, der dem Glauben nach in Udupi für immer zur Ruhe kam.
Um den Krishna-Tempel herum verteilen sich noch andere kleinere Tempel. Als wir früh am Morgen über das Gelände des Komplexes spazieren, haben die ersten Pujas bereits begonnen. Aus einem der Tempel hören wir Frauengesänge, die von Manjiras – kleinen Messingbecken – begleitet werden. Rauch streift durch die Luft. Eine Frau mit langem schwarzen Zopf und glänzendem Sari zündet am Eingang eine Kerze an, faltet ihre Hände vor der Brust und verbeugt sich. Es ist schön zu sehen, wie der religiöse Alltag erwacht. Micha und ich streifen eine ganze Weile barfuß als stille Beobachter umher und sind wieder mal berührt von der Atmosphäre, die herrscht. Gleich um die Ecke gibt es ein kleines beliebtes Restaurant, in dem wir zusammen mit den Pilgern ein typische Udupi-Frühstück genießen: Idli, Vada und Sheera.
Von Udupi aus wollen wir ein Stück im Zug bis in den Bundesstaat Kerala fahren – etwa 400 Kilometer bis nach Thrissur. Im Dezember haben viele Inder Urlaub und Züge sind oft überfüllt und ausgebucht. Wir hatten uns daher bereits in Gokarna in einem kleinen Reisebüro um zwei Fahrkarten bemüht und Plätze für den 16. Dezember um 14:02 Uhr ergattert. Die Fahrräder könnten wir problemlos zum Bahnhof mitnehmen und dort im selben Zug verladen lassen.
Am Morgen des Abreisetags bekommen wir mitgeteilt, dass sich unser Zug – der Indien von Nord nach Süd durchquert – um mindestens zwei Stunden verspätet. Wir kommen rechtzeitig am Bahnhof von Udupi angeradelt, um die Mitnahme unserer Fahrräder anzumelden. Doch am Parcel-Office, das die Verladung von Paketen und Sondergepäck organisiert, lässt man uns unerwartet abblitzen. In Udupi würden Fernzüge nur drei Minuten halten. Keine Chance, den Gepäckwagon zu öffnen und unsere Räder darin zu verstauen. Dem Parcel-Chef tut es leid, aber er lässt sich zu keiner Ausnahme überreden. Mittlerweile hat der Zug drei Stunden Verspätung.
Der Parcel-Beamte schlägt vor, mit dem Taxi 55 Kilometer bis nach Mangalore zu fahren. Dort würde unser Zug mindestens zehn Minuten halten. Vor dem Bahnhof in Udupi finden wir recht schnell einen Fahrer, der uns nach Mangalore bringen kann. Wir verstauen mein Fahrrad und die Taschen im Auto. Michas Rad wird aufs Dach gelegt und festgebunden. Nassgeschwitzt steigen wir in den Wagen und anderthalb Stunden später stehen wir hoffnungsvoll auf dem Bahnsteig in Mangalore. Mittlerweile ist es etwa 17 Uhr . Unser Zug braucht noch eine Weile hierher. Am Schalter erklären wir dem Bahnhofsbeamten die Situation und hoffen, dass es diesmal eine Lösung für die Fahrräder gibt. Der guckt skeptisch.
In der Zwischenzeit hat uns Raj aus Bangalore entdeckt, der gerade aus einem Zug gestiegen ist. Vor kurzem hat er Kanada auf seinem Bicycle durchquert und freut sich, auf andere Radreisende zu treffen. Raj spricht mit den Jungs am Parcel-Gate, die das Gepäck in die Züge verladen. Er kann sie überreden, dafür zu sorgen, dass unsere Fahrräder mitkommen und man händigt uns am Schalter das entsprechende Ticket dafür aus. In anderthalb Stunden, so gegen halb acht, soll unser Zug eintrudeln. Raj schlägt vor, bis dahin noch etwas essen zu gehen. Wir stellen die Fahrräder am Ende des Bahnsteigs beim Verlade-Tor ab und fahren mit unserem Gepäck in zwei Rikschas ins nächste Restaurant. Als wir fast aufgegessen haben, klingelt mein Handy. Es ist einer der Parcel-Jungs. Sein Englisch ist schlecht zu verstehen. Aufgeregt macht er klar, dass wir schnell zum Bahnhof kommen müssen. Auf einmal sei der Zug fast da und sie könnten die Fahrräder nicht bewegen. Wir hatten sie sicherheitshalber zusammengeschlossen, solange wir weg waren.
Wir drei hetzen zurück zum Bahnhof und springen aus den Rikschas. Micha rennt los, um die Fahrräder zu befreien. Raj und ich hieven schnell die Taschen zum Bahnsteig, wo der Zug bereits wartet. Als Micha zu uns stößt, setzen sich die Wagons plötzlich in Bewegung. Überrumpelt laufen wir nebenher und werfen wie in einer Filmszene unsere ganzen Taschen nacheinander durch die offene Tür in den anrollenden Zug. Wir springen hinterher und haben nicht einmal Zeit, uns von Raj zu verabschieden, der genauso verdattert guckt wie wir und am Bahnhof zurückbleibt. Plötzlich sehen wir am Ende des Bahnhofs, wie die Parcel-Jungs unsere Fahrräder in Ruhe über den Bahnsteig schieben. Scheiße!
Der Zug ist nicht mehr zu stoppen und wir gucken durch die offene Zugtür in die vorbeiziehende Dunkelheit. Die Fahrgäste schauen uns fragend an. „Wohin fährt dieser Zug?“ frage ich. „Nach Bangalore.“ Ganz falsche Richtung.
Raj hat verstanden, was los ist. Wir telefonieren und er schlägt vor, in Mangalore auf uns zu warten. Solange wird er sich darum kümmern, dass unsere Fahrräder erstmal sicher am Bahnhof bleiben. Eine halbe Stunde später stoppt unser falscher Zug an einem kleinen Bahnhof. Wir steigen aus und düsen in einem Taxi zurück nach Mangalore. Mittlerweile ist es etwa neun Uhr abends und den gebuchten Zug nach Thrissur haben wir verpasst. Den Parcel-Jungs tut es leid, dass wir uns missverstanden haben.
Raj ist freundlicherweise immer noch an unserer Seite. Er hilft mir, am Schalter einen neuen Zug zu finden. Zwar gibt es keinerlei freie Plätze mehr, aber mit sogenannten offenen Tickets könnten wir in den nächsten Zug dazu steigen. Wir sprechen nochmal mit den Parcel-Jungs, die uns versichern, die Räder zu verladen.
Um halb zehn soll der nächste Zug einfahren. Nachts um viertel vor zwölf stehen wir immer noch im Bahnhof von Mangalore herum. Micha wartet irgendwo am dunklen Ende des langen Bahnsteigs, um aufzupassen, dass die Räder tatsächlich verladen werden. Um Mitternacht trudelt der Zug endlich ein. Bevor ich unsere acht Taschen hinein schleppe, warte ich nervös auf Michas Anruf, dass es mit den Fahrrädern klappt. Der Aufpasser im Gepäckabteil musste erst noch überredet werden. Als der erlösende Anruf endlich kommt, geht’s los. Zwei Krankenschwesterschülerinnen, mit denen ich zusammen auf den Zug gewartet habe, helfen mir mit dem Gepäck. Micha steigt auch bald dazu. Geschafft!
Im Zug ist es stickig und dunkel. Die dreistöckigen Liegen der dritten Klasse sind belegt mit schlafenden Leuten. Nackte Füße ragen in den Gang hinein, teilweise liegen die Fahrgäste zwischen Gepäck und Müllresten auf dem Boden. Als der Zug rollt, weht der Fahrtwind durch die offenen Gitterfenster ins Abteil. Manchmal mischt sich der Geruch nach Gülle darunter.
Micha läuft auf der Suche nach einem freien Platz durch die engen Gänge und hat vier Wagons weiter Glück. Wir schleppen nacheinander unsere Taschen durch den vollen Zug. Dann endlich krabbeln wir ermattet auf die Liegen und schlafen erleichtert ein. Morgens um sechs Uhr erreicht der Zug dann Thrissur. Er hält nur drei Minuten, bis er weiterfährt. Micha sprintet vor, um sicherzustellen, dass der mürrische Typ vom Gepäckwagon unsere Räder freigibt. Im Wagon ist alles durcheinander geraten und versperrt die Tür von innen. Hektik macht sich breit. Als sich die verklemmte Tür endlich aufschieben lässt, sind beide Fahrräder unter umgekippten Motorrädern und Paketen vergraben. Wir sind froh, dass wir bald alles wieder zusammen haben und nichts beschädigt ist. Zufrieden fahren wir ein paar Straßen weiter zur Unterkunft.
Sonntag, 17. Dezember 2023. Es ist der zweite Advent und wir sitzen im abendlichen Gottesdienst der dritthöchsten Kirche Asiens. Die weiße Basilika in Thrissur ist voller Menschen. Es wird gemeinsam gesungen, was hier ganz anders klingt, als wir es kennen – ein bisschen wie Schlagerpop. In Kerala gibt es unzählige Kirchen und christliche Gemeinden. Das indische Christentum ist sogar älter als viele Gotteshäuser in Europa. Syrische Christen hatten weit vor der Kolonialisierung den Glauben nach Kerala gebracht. Jetzt im Advent sind viele Straßen und Häuser mit Lichterketten und westlichem Weihnachtsschmuck dekoriert. Vor den Geschäften hängen rotweiße Mützen und Kleider zum Verkauf.
Einen Tag später kommen wir in der alten Hafenstadt Kochi an, wo wir unser intensives Jahr in Ruhe ausklingen lassen wollen. Der Ort ist eine Halbinsel – mit Fort Kochi an der Spitze. Dieser bei Touristen beliebte Stadtteil sieht charmant aus und hat Einiges zu bieten. Weihnachten sowie Silvester werden hier außergewöhnlich bunt und ausgiebig zelebriert – zusammen mit zigtausenden Besuchern aus ganz Indien. Mal sehen, ob Micha und ich bei über dreißig Grad in Festtagstimmung kommen.
Hallo ihr Beiden,
Schön das es euch so gut in Kerala gefällt. Viele Erinnerungen kommen bei uns hoch. Thrissur, Kochi, Munnar etc.
Wir schauen regelmäßig bei euch vorbei.
Ich weiß jetzt nicht genau wo ihr seid aber wenn ihr in der Nähe seid geht bei der Ashram vom Hugging Amma vorbei. Liegt an der Küste, den Ort lässt sich sicherlich im Internet finden.
Varkala kann ich auch sehr empfehlen. Hier waren wir schon 2x am Black Beach.
Liebe Grüße aus dem sonnigen winterlichen Allgäu
Marc