Zum Inhalt springen

Welcome to Mumbai

Nie hätten wir gedacht, dass uns eine indische Megametropole den perfekten Start in unser neues Indienabenteuer beschert. So viele Begegnungen und Eindrücke in nur zwölf Tagen, die nicht spannender, berührender und gegensätzlicher hätten sein können – vom Besuch im größten Slum der Stadt bis hin zum Dinner im Apartment eines Multimillionärs. In Mumbai bilden Indiens Parallelwelten eine enge Nachbarschaft. Wir durften ein bisschen eintauchen.

31. Oktober 2023, etwa halb zehn abends indischer Zeit. Der Flug von Jerewan nach Mumbai verlief ohne Probleme. Jetzt stehen wir seit über einer halben Stunde im Terminal vor dem Laufband fürs Großgepäck und hoffen, dass auch die Kartons mit den Fahrrädern ankommen. Draußen wartet bereits Hasmukh mit einem Transporter auf uns. Er ist ein Freund von unserem Yogalehrer in Berlin. Obwohl uns Hasmukh gar nicht kennt, war es für ihn überhaupt keine Frage, dass er uns am Flughafen abholt. Schon Tage vor der Ankunft hatte er regelmäßig Nachrichten über WhatsApp geschickt und betont, dass es ihm eine große Freude sei, uns zu empfangen.
Als wir das ganze Gepäck beisammen haben, laufen wir erleichtert aus der Lobby in die schwülwarme Luft von Mumbai und halten freudig Ausschau nach Hasmukh. Er ist Mitte sechzig und leicht zu erkennen, denn seit mehreren Jahren hat er eine Pigmentstörung, die sich auch in seinem Gesicht abzeichnet. Sein Name bedeutet übrigens „fröhliches Gemüt“, was ihn absolut passend beschreibt. Hasmukh kommt uns mit einem großen Lächeln entgegen. Er überreicht mir einen Blumenstrauß und im Auto steht eine Tüte mit Obst, Snacks und Getränken für uns bereit. Es ist wieder einmal unglaublich, wie herzlich wir von einem Fremden empfangen werden.
Bis ins Stadtviertel Matunga East im Zentrum Mumbais, wo wir für eine Woche ein kleines Apartment gemietet haben, sind es etwa vierzig Minuten Fahrt. So spät abends ist es erstaunlich stressfrei – kein hupendes Chaos, wie wir es erwartet hätten. Unsere Unterkunft befindet sich in der Telang Road im zehnten Stock eines modernen Hochhauses. Hasmukh wohnt in einer kleinen Wohnstraße gleich um die Ecke, nicht mal fünf Minuten Fußweg entfernt. Wir gehen noch eine Kleinigkeit zusammen essen, bevor er uns wieder verabschiedet. Allerdings nur bis zum nächsten Morgen.

Bevor wir ins Bett gehen, räumen wir noch das verstreute Gepäck und die Kartons mit den Fahrrädern beiseite. Das Apartment mit seinem hellglänzenden Fliesenboden ist wirklich schön und eigentlich nicht unser Budget. So viel Auswahl hatten wir in Matunga East allerdings nicht, denn die meisten Touristen kommen im Süden Mumbais unter. Aus den großen Fenstern blicken wir auf andere Hochhäuser im Viertel und auf Baumkronen, aus denen uns exotische Vogellaute willkommen heißen.
Obwohl Hasmukh viel beschäftigt ist, hilft er uns vormittags bei ein paar Besorgungen wie dem komplizierten Kauf indischer Sim-Karten. Später erkunden Micha und ich unsere neue Nachbarschaft. Die heiße Luft ist drückend und riecht so typisch nach Indien – einer Mischung aus herben, holzigen und süßlichen Aromen. Am Ende der Telang Road kommt man an einem kleinen Blumenmarkt vorbei – eine bunt behängte Reihe enger Holzstände, in denen täglich kunstvoller Blütenschmuck für Tempel und Feste geknüpft wird. Ganz in der Nähe befindet sich der Kreisverkehr King’s Circle, den jeder in Mumbai kennt. Die Gegend um den Circle ist gesäumt mit schattigen Wohnstraßen, alten zweistöckigen Häusern, großen Bäumen, verzierten Tempeln, Shops, Straßenständen sowie alten Restaurants, die für beste südindische Küche bekannt sind. Wir sind noch nicht mal 24 Stunden im Lande, aber in der besonderen Atmosphäre geht uns sofort wieder das Herz auf.


Nachdem wir Hasmukh und seine Frau Harsha auch in ihrem Zuhause besucht haben, möchte er uns unbedingt noch ein paar Freunden vorstellen. Eines Morgens sitzen wir also im Matunga Gymkhana – einem alten Sportclub mitten im Viertel, mit Tennisplatz, schönem Außenpool und Restaurant. Es ist der Treffpunkt wohlhabender Geschäftsleute und deren Familien. Kein Hochglanzclub, aber einer mit Tradition. Einmalig rund 50.000 Dollar kostet die Mitgliedschaft, was recht günstig ist, sagt Hasmukh. Er kommt normalerweise jeden Morgen und Abend hierher, um seine Freunde zu treffen und eine Runde zu schwimmen.
Während er und Micha in den Pool steigen, sitze ich draußen mit sieben fröhlichen Männern im Alter zwischen 60 und 80 um einen Tisch herum, trinke ein Glas frisch gepressten Zuckerrohrsaft und unterhalte mich. Keinem der charmanten Herren sieht man an, dass sie mit ihrem Business in der Textil, Bau- oder Stahlbranche teils superreich geworden sind. Sie wirken auf mich ziemlich bescheiden. Und obwohl die meisten von ihnen selbst in der Welt herumgekommen sind, scheinen sie von unserer Radreise äußerst beeindruckt zu sein. Hasmukh erzählt uns später, dass sich viele von ihnen sozial engagieren und zum Beispiel ganze Bildungs- und Sporteinrichtungen unterhalten. Insbesondere die religiöse Gemeinschaft der Jains, der auch Hasmukh angehört, ist für ihr weit überdurchschnittliches soziales Engagement in Indien bekannt.

Hasmukh handelt seit vierzig Jahren mit Leinenstoffen und betreibt nordöstlich von Mumbai, in Bhiwandi, zudem eine kleine Stofffabrik. Als wir ihn fragen, ob wir ihn in die Fabrik begleiten dürfen, lädt er uns sofort ein. Stolz führt er uns an einem Sonntag durch die Weberei. 24 Angestellte arbeiten hier. Es ist ziemlich eng, stickig und laut. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht gegen die schweren maschinellen Webstühle stoßen, die rund um die Uhr rattern. Bhiwandi ist ein Hotspot der indischen Textilindustrie und wird manchmal das Manchester Indiens genannt. Seit Jahrzehnten sind hier rund um die Uhr mehrere Hunderttausend teils ohrenbetäubender Webmaschinen in unzähligen Kleinfabriken im Einsatz – sowie schätzungsweise eine Million Arbeiter, die in zwei Schichten die harte Fabrikarbeit verrichten.


Über Orte wie Bhiwandi machen wir uns in Deutschland kaum eine Vorstellung. Genauso ist es mit Dharavi – der berühmte Slum mitten in Mumbai, der spätestens seit dem Kinofilm Slumdog Millionär über Indien hinaus bekannt wurde. Dort leben und arbeiten ebenfalls eine Dreiviertel Million Menschen – allerdings auf einer Quadratfläche mit gerade mal anderthalb Kilometern Länge. Tourguide Jitendra Jain, etwa Mitte dreißig, der in Dharavi geboren und aufgewachsen ist, nimmt uns an einem späten Nachmittag mit in diesen Teil der Stadt. Die Neue Zürcher Zeitung hatte Dharavi in einem Artikel vor zwei Jahren mal so beschrieben: „ein Labyrinth aus Wellblechverschlägen, Garküchen, Werkstätten, Moscheen, Dreckhaufen, Tempeln, Schulen, Märkten und verschmutzten Wasserkanälen. In manchen Gassen finden keine zwei Personen aneinander vorbei.“
Wir steigen zusammen mit Jitendra an einer wuseligen Straße aus der Auto-Rikscha und stehen jetzt am Rande des Slums. Jitendra (Gründer von Color Experiences) hat sich in Mumbai als Tourenanbieter, der für authentischen und ethischen Tourismus steht, einen Namen gemacht. Ihm ist es ein Anliegen, Dharavi in ein anderes Licht zu rücken. Er wird darauf achten, dass unser Besuch im Viertel respektvoll verläuft und sich die Bewohner nicht wie im Zoo vorkommen.
Während wir mit ihm durch die verschiedenen Quartiere und Gassen laufen, sind Micha und ich überrascht, entsetzt und manchmal beschämt. Noch nie haben wir einen solchen Lebensort gesehen. Ein Bild bleibt uns besonders hängen: das Leben der Arbeitsmigranten im Recycling-Quartier. Ob jung oder alt – Männer aus anderen Teilen Indiens arbeiten hier auf engstem Raum täglich zwölf Stunden, ohne freie Tage, neun Monate im Jahr. Für drei Euro am Tag. Den Rest des Jahres fahren sie zurück in ihre Dörfer, um bei der Ernte zu helfen. Per Hand sortieren, schreddern und waschen sie bergeweise Plastikmüll. In den dunklen Verschlägen, wo sie den Müll verarbeiten, schlafen sie auch. Ohne Bett, ohne eigene Waschmöglichkeit und Toilette.
Andererseits sind wir beeindruckt, wie gut sich die Menschen hier unter widrigsten Umständen organisieren. Offiziell wird es nicht gerne gesagt, aber Dharavi ist eine wichtige ökonomische Stütze für Mumbai. Das Viertel betreibt mit 20.000 Kleinstbetrieben eine erfolgreiche Schattenwirtschaft. Neben dem Müllrecycling werden unter anderem Leder gegerbt, Seifenreste zu neuen Seifen verarbeitet, etliche Backwaren oder Tongefäße exportiert. Der schwarze Rauch aus den Brennöfen strömt jeden Abend durchs Töpferquartier.
Als ich die fröhlich spielenden Kinder im Viertel sehe, frage ich Jitendra, wie er seine Kindheit in Dharavi empfunden hat. Für ihn sei es ein ganz normales Leben gewesen. Erst als Jugendlicher habe er verstanden, wo er da eigentlich lebt. Dank ihm haben wir gelernt, was für ein beeindruckender Mikrokosmos Dharavi ist, den die Ärmsten der Gesellschaft mit Einfallsreichtum und harter Arbeit gemeinsam erschaffen haben. Es ist eine Stadt in der Stadt, in der es Geschäfte, Straßenküchen und sogar Schulen gibt.

Nur einen Abend später sitzen wir bei Rajesh und seiner Familie auf dem hellen, bequemen Sofa im 24. Stock eines noblen Apartmenthauses. An der Glasfensterfront entlang der großen Wohnung erstreckt sich eine breite Terrasse, von der aus man auf das zarte Funkeln der Lichter Mumbais blickt. Vom Meer weht eine warme Brise herüber und bringt das Windspiel an der Terrasse zum Klingen. Die Stadt wirkt friedlich von hier oben.
Wir haben Rajesh vor ein paar Tagen in der Yogaklasse kennengelernt. „If you guys are free tonight, then join us at our home for dinner.“ schrieb er uns hinterher. Neugierig haben wir das großzügige, moderne Apartment der Familie im Stadtteil Dadar betreten. Wir trauten uns nicht zu fragen, wie viel so eine Wohnung wert ist. Was Wohnraum betrifft, ist Mumbai eine der teuersten Städte der Welt. In der Küche bereiten Rajeshs Frau und ihre sechzehnjährige Tochter gerade das Essen vor. Später klingeln noch weitere Gäste an der Tür, darunter Nachbarn aus dem selben Haus. Alle in der Runde sind unglaublich nett und entspannt. Die Gespräche und Anekdoten drehen sich um das Reisen, Sport, Yoga oder die Familie. Es wird viel gelacht und am Ende bekommen alle Gäste noch ein kleines Geschenk zum Abschied überreicht.


Unser lieber Hasmukh und seine Familie fahren für ein paar Tage in ihr altes Heimatdorf in Gujarat, um Diwali zu feiern. Wir entscheiden uns, noch ein paar Tage länger in Mumbai zu bleiben und das Lichterfest hier zu feiern. Dafür ziehen wir einen Stadtteil weiter nach Sion zu Jasmine, die eines von zwei Schlafzimmern ihrer Wohnung über AirBNB vermietet. Es ist ein älterer Wohnblock mit sechs Stockwerken. Jasmine wohnt ganz oben. Wir fühlen uns vom ersten Moment an sehr wohl bei ihr, denn Jasmine versprüht sofort eine herzliche Fröhlichkeit. Wir tragen unsere Fahrradtaschen barfuß über den blitzblanken, hellgrauen Steinfußboden ihrer Wohnung in unser neues Zimmer. Das große offene Fenster im Wohnzimmer ist umringt von Grünpflanzen. Jasmine wohnt allein hier mit ihrem alten Hund Jio. Sie hat sich vor ein paar Jahren nach einer langen, schwierigen Ehe scheiden lassen. Ihre beiden erwachsenen Kinder leben in den USA.
Als Micha eines Morgens in Herrgottsfrühe mit seinem Fahrrad die Wohnung verlässt, um mit zwei anderen Radfahrern eine Morgenrunde durch Mumbai zu drehen, entwischt mir Hund Jio durch die Wohnungstür. Barfuß und halbnackt versuche ich, ihn aufzuhalten. Aber er läuft stur und schwanzwedelnd Treppe für Treppe nach unten. Auf dem letzten Stockwerk bleibt er zum Glück stehen, spreizt allerdings seine Hinterbeine und pinkelt eine Riesenlache in den Hausflur. Ich stehe blöd daneben und hoffe, dass mich keiner sieht. Danach lässt er sich wieder langsam nach oben scheuchen. Als ich Jio durch die Wohnungstür zurückschieben will, knurrt er laut. Es nützt nichts, ich muss Jasmine aufwecken, die sich sofort um das kleine Malheur kümmert.

Heute ist der 12. November – der Höhepunkt des Lichterfestes. Seit Tagen böllert es jeden Abend im ganzen Viertel, obwohl Feuerwerkszeug in Mumbai mittlerweile verboten ist. Die Häuser und Fenster hängen voller bunter Lichterketten. Auf der Straße werden Tütchen mit buntem Sand zum Dekorieren, Blumenschmuck und Öllämpchen aus Ton verkauft. Jasmine und ihr Hausmädchen schmücken damit am Vormittag die Wohnung für das Fest. „Heute feiern wir drei zusammen Diwali,“ sagt Jasmine. Dafür legt sie mir ein wunderschönes Kleid ihrer Tochter auf das Bett. Der schwere Stoff leuchtet gelb wie die Sonne. Ich fühle mich geehrt, denn ich wollte schon immer ein indisches Kleid tragen.
Nach dem Sonnenuntergang ziehen Jasmine und ich unsere Kleider an. Ich komme mir darin ein bisschen wie eine Prinzessin vor. Jasmine strahlt ebenfalls, als sie mich fertig angezogen sieht. Vielleicht muss sie gerade an ihre Tochter denken. Bevor wir gemeinsam in den Sikh-Tempel gehen, vollzieht Jasmine eine Zeremonie vor ihrem Altar im Wohnzimmer. Sie zündet kleine Kerzen an, setzt sich auf den Boden, läutet ein Glöckchen und rezitiert Texte aus einem Buch. Wir sitzen still daneben. Auf dem Weg zum Tempel sagt sie, wie glücklich sie sei, das wir Diwali zusammen feiern. Sie hat gerne Leute um sich. Zurück vom Tempel essen wir gemeinsam das Diwali-Dinner, das Jasmine tagsüber vorbereitet hat. Sie liebt es, zu kochen. Wir haben sie in so kurzer Zeit und besonders heute ins Herz geschlossen.

Nach fast zwei Wochen in Mumbai ist es dann soweit. Fünf Uhr morgens steigen wir im Dunkeln auf die bepackten Räder und radeln fünfzehn Kilometer bis zum Gate of India am Südende der Stadt. Mumbais Straßen sind erstaunlich ruhig um die Zeit. Es macht richtig Spaß, in den anbrechenden Morgen hinein zu fahren. Pünktlich um sieben Uhr tragen wir unsere Räder eine Steintreppe hinunter auf die kleine Passagierfähre, die in etwa einer Stunde hinüber zum Dorf Mandwa tuckert. Mittlerweile ist es hell und am Horizont verschwindet Mumbai langsam im weißen Morgendunst. Micha und ich sind bestens gelaunt und sehr gespannt, wie unsere Reise an der Küste entlang bis in den Süden weitergeht. Viele halten Radfahren in Indien für keine gute Idee. Nach unseren Erfahrungen auf dem Motorrad sind wir ebenfalls unsicher, denn der Verkehr kann rücksichtslos und gefährlich sein. Allerdings gibt es hierzulande auch Fahrradverrückte wie Mumbais Bicycle-Baba Anil Uchil (on Insta), der uns Tipps gegeben und ermutigt hat, als er von uns erfuhr. Seit seiner Kindheit liebt Anil das Radfahren und hat mittlerweile 200.000 Kilometer auf dem Tacho. Regelmäßig organisiert er sportliche Gruppenausfahrten von bis zu 300 Kilometern am Tag. Unglaublich, dass sowas auf Indiens Straßen möglich ist. Zuversichtlich treten wir in die Pedale.

Ein Gedanke zu „Welcome to Mumbai“

  1. Liebe Suse, lieber Micha,
    der Bericht und die Fotos geben einen ausgezeichneten Einblick in Eure Erlebnisse in Mumbai mit Begegnungen zu sehr unterschiedlichen, aber auch sehr offenen Menschen. Ich bin überrascht und auch erfreut, dass es Euch gelingt, in kurzer Zeit viele interessante Menschen zu treffen und ein Stück an deren Leben teilzuhaben. Es hat wieder viel Freude gemacht, einen Bericht von Euch zu lesen, und ich bin gespannt zu erfahren, wie es Euch mit den Fahrrädern auf Indiens Landstraßen ergeht.
    Beste Grüße
    Udo

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Translate »
Consent Management Platform von Real Cookie Banner