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Alpe-Adria: Über Berge ans Meer

20. April 2023. Ab heute fahren wir auf das höchste Gebirge Europas zu. Es ist vielleicht noch etwas früh im Jahr für eine Radtour durch die Alpen, aber das Wetter ist gerade nicht schlecht. „Alpenüberquerung für Anfänger“ hatte ich bei der Reiseplanung gegoogelt. So kamen wir auf den Alpe-Adria-Radweg. Der führt ab Salzburg durch die Täler des Nationalparks Hohe Tauern, durch Kärnten und endet in Italien am Mittelmeer. „Du musst kein Fernradwegprofi sein, um das zu meistern“, stand da. Das klang nach dem richtigen Weg für uns. Im Sommer bieten Reiseagenturen die Tour als Aktivurlaub an: „Sie radeln, wir kümmern uns ums Gepäck!“ Mit unseren insgesamt 17 Taschen hätten sie ordentlich zu tun.

Gut gelaunt und bei Sonnenschein radeln wir in Unken/Österreich los und stoßen mittags etwas südlich von Salzburg bei Hallein auf den Radweg. Für die rund 400 Kilometer lange Strecke planen wir etwa acht Tage ein. Die erste Etappe ist nicht schwierig – ein schöner Abschnitt durch ein geschwungenes frisches Bergwiesental wie man es von Postkarten im Kopf hat. Am frühen Abend bauen wir in der Nähe von Golling an der Salzach hinter einem großen Gasthof auf einer feuchtkalten Wiese das Zelt auf. Außer uns ist niemand weiter hier. Hungrig werfen wir schnell den Kocher an. Beim stundenlangen Radeln denkt man oft ans Essen – und seit wir unterwegs sind, schmeckt alles nochmal so gut. Heute genießen wir Pellkartoffeln mit Quark, verfeinert mit frisch gepflücktem Bärlauch vom Wegesrand. Danach wird noch eine Tafel Schokolade verdrückt.
Warm eingekuschelt im Schlafsack bereite ich mich gedanklich auf die bevorstehende Anstrengung vor. Denn morgen oder übermorgen beginnt bereits der Anstieg zum Tauerntunnel nahe Bad Gastein – die steilsten Etappen des Alpe-Adria-Radwegs. Beinmuskulatur und Kondition sind mittlerweile zwar spürbar gestärkt, aber das Fahren mit Gepäck bei Steigung bleibt sportlich. Und es findet nicht nur in den Beinen statt, sondern auch in meinem Kopf. Dort entscheidet sich, was ich schaffen kann. Ich bin da ein bisschen wie Barbara Schöneberger. Die hat mal gesagt, sie steigt nur den Berg hinauf, wenn sie weiß, dass dort eine Hütte mit Essen auf sie wartet. So ähnlich ist es auch bei mir. Das Fahrrad muss mich irgendwo hinbringen – an einen schönen Ort, zu einem schönen Moment. Micha sieht das genauso, nur macht ihm die Anstrengung viel weniger aus. Er vertraut meiner Kraft, dass hilft mir. Seine Stärke sind Geduld und Feingefühl, die uns als Radlerteam in Balance halten.

Am zweiten Tag durch die Alpen sind wir erstmal ein ganzes Stück auf Bundesstraßen unterwegs. Bei einer Pause noch vor Bischofshofen checke ich online den Fahrplan für den Tauerntunnel. Denn auf dem höchsten Punkt der Alpentour geht’s hinter Bad Gastein elf Minuten lang auf dem Zug durch den Gebirgskamm der Hohen Tauern – normalerweise. Jetzt lesen wir: „Tunneldurchfahrt wegen dringender Wartungsarbeiten noch bis Mitte Mai gesperrt.“ Die einzige Alternative im Moment sei ein Ersatzverkehr mit Bussen von Bischofshofen nach Spittal an der Drau, der die zwei spannendsten Etappen umfährt. Wir wissen gerade nicht, ob wir uns ärgern oder freuen sollen.
Ob die Busse auch Fahrräder mitnehmen, finden wir leider nicht heraus. Also radeln wir erstmal bis zum kleinen Bahnhof von Bischofshofen weiter. Als wir ankommen, steht gerade ein großer Bus kurz vor der Abfahrt. Wir haben keine Zeit mehr, Tickets zu besorgen, aber der Busfahrer lässt uns trotzdem zusteigen. Schnell hieven wir unser Gepäck in den Kofferraum und die Fahrräder zwischen die Sitzreihen. Micha und ich sind die einzigen Fahrgäste im Bus. In den gepolsterten Sitzen werden wir schnell müde und nicken ein. Nur 80 Busminuten später haben wir die beiden steilsten Tagesetappen durch die Alpen sozusagen im Schlaf übersprungen und die Mitfahrt wurde uns nicht mal berechnet. Uns wird nochmal klar, wie anders das Reisen aus eigener Kraft ist. Und im Moment sind wir einfach nur happy, dass wir den schwierigsten Teil der Alpenüberquerung bereits hinter uns haben.

Von Spittal aus erreichen wir am übernächsten Tag Italien. Es fühlt sich toll an, wieder eine Grenze zu überqueren und eine andere Sprache zu hören. Der Radweg geht hier außerdem auf einer ehemaligen Eisenbahnstrecke mit schönen Ausblicken und ohne große Steigungen weiter. So fährt es sich wunderbar, nur die stockdunklen Tunnel finde ich etwas gruselig.
Wir reisen hier im Nordosten Italiens durch das Friaul – eine Region mit eigener Sprache und eigener Küche. Wer aromatischen Hartkäse und Schinken mag, ist hier richtig. Nahe Pontebba, in einem urigen Gasthaus ein paar Kilometer bergauf, genießen wir abends zusammen mit Gästen aus dem Ort friaulisches Essen: deftige Bohnensuppe und Frico – ein herzhafter Käse-Kartoffel-Fladen mit einem Stück gebratener Polenta. Das winzige Dorf ist umringt von Bergen, der Fluss rauscht und alles wirkt frisch durchtränkt vom Frühjahrsregen.
Der Radweg führt uns weiter durch grüne Landschaft und hübsche Kleinstädte. Es ist Blauregensaison und das zarte Lila der üppigen Blütenpracht leuchtet an vielen Mauern und Zäunen. Nach insgesamt sechs Etappen einschließlich der schönen Stadt Udine radeln wir auf einem langen Deich zur Halbinsel Grado und sind damit am Ende des Alpe-Adria-Wegs angekommen. Statt türkisfarbener, rauschender Wellen ist das Meer hier seicht und flach. Es ist trotzdem herrlich, am Wasser zu sein. Ab jetzt geht’s immer an der Adriaküste entlang südwärts, bis nach Bari – ungefähr drei Wochen lang.

Auf der Fähre zum Lido von Venedig lernen wir Radler Julien kennen – ein Hamburger Jung Anfang 30, der seine Reise am selben Tag wie wir gestartet hat. Sein Tachostand zeigt allerdings schon fast doppelt so viele gefahrenen Kilometer an. In fünf Monaten möchte er Italien umrunden und bis Frankreich und Spanien radeln. Die gelbe Abendsonne lässt das Wasser glitzern und wir fahren spontan mit zum kleinen Campingplatz auf dem Lido, den Julien ansteuert. Wir bilden ab jetzt eine Fahrgemeinschaft – ein paar Tage in neuer Gesellschaft fühlen sich gerade gut an. Julien ist ein smarter Typ, fit, hat alles im Griff und einen klaren Plan vom Leben. Er liebt das Radfahren und das merkt man – hundert Kilometer am Tag sind locker drin. Jetzt möchte er versuchen, etwas zu entschleunigen. Als Fahrgemeinschaft werden wir nach einer Weile merken, dass sich das Radreisen für jeden anders gestaltet und anfühlt. Irgendwo zwischen dem Radeln an sich und dem entdeckenden Reisen liegt das persönliche Gefühl von Genuss und Freiheit – eine Skala, die Micha und ich gerade noch sensibel austarieren. Wie viel Radfahren fühlt sich gut an? Wie viel Verweilen und sich Treiben lassen soll es sein?

Uns gefällt die Adriaküste, denn wir sind zur richtigen Zeit hier. Jetzt im Mai erwacht Italien erst nach und nach aus dem touristischen Winterschlaf. Wir fahren meistens über leere Radwege, die gut ausgebaut sind. Es geht durch hell getünchte Ferienorte mit kilometerlangen Strandpromenaden, breiten Badestränden, unzähligen Hotels und Cafés. Dazwischen Küstenstädte mit malerischer Altstadt, bergige Abschnitte mit schönen Ausblicken auf das Meer und blumengesäumte Felder. Die Frühlingsluft an der Küste ist angenehm kühl und die Armeen von Sonnenschirmen sind noch fast überall zugeklappt. Die Möbel der meisten Strandrestaurants stehen noch gestapelt in der Ecke. Jetzt haben Handwerker Hochsaison und bringen die Urlaubsorte in Schuss. Planierraupen fahren die Strände rauf und runter. Noch ahnt niemand, dass in zwei Wochen tagelanger Starkregen einen Teil der Küste und Orte wie Rimini und Ravenna überschwemmen und die ganze Arbeit zunichte machen werden.

Wir radeln, immer noch zu Dritt, etwa 60 bis 75 km am Tag – bis nach Ancona, nach Termoli und auf den Gargano – dem bergigen Sporn des italienischen Stiefels. Je südlicher wir kommen, desto verschlafener die Orte. Auf dem Campingplatz Baia Calenella direkt am Strand sind wir die allerersten Touristen der Saison. Blätter und der Staub vom letzten Winter bedecken noch die Keramikbecken am Klogebäude. Abends schleicht ein Fuchs um uns herum über den leeren Platz und sucht routiniert sein Revier ab. Morgens wird Micha dann wie immer um halb Sieben herum wach – diesmal allerdings von einem hämmernden, kratzenden Geräusch, das sich unter das Meeresrauschen mischt. Auf der großen Terrasse nebenan, wo im Sommer die Campinggäste ihre Pizza essen, klopft ein Handwerker den Rost von der Überdachung. Hippelig und gut gelaunt steigt er von der Leiter und reicht Micha zum Gruß die Hand. Normalerweise sei er der Animateur der Sommergäste, gibt er mit ein paar Worten Englisch zu verstehen und deutet stolz auf sein buntes Shirt: „Elvis Payno“. Seine Augen strahlen dabei. Als Micha ihm erzählt, dass wir aus Deutschland hierher geradelt sind, schwingt er plötzlich seine Hüfte, kreist umher und erklärt ihm mit viel italienischer Gestik, dass in ein paar Tagen achtzig deutsche Gäste eintreffen werden. Dann würde hier ordentlich gefeiert. Der blonde Animatore mimt einen Touristen, wie er fröhlich über die Terrasse schwooft.

Auf dem Gargano haben wir auch weniger nette Begegnungen: die ersten Wachhunde, die uns bellend hinterher jagen. Da schießt jedes mal Adrenalin durchs Blut. Noch sind wir unsicher, wie wir uns verhalten sollen. Meistens hilft es, das Tempo zu drosseln. Oder anzuhalten und einen Steinwurf anzutäuschen. Aber das muss man sich erstmal trauen. Auf dem Motorrad war das ebenfalls unangenehm, aber da konnte man als Gejagter davonfahren und trug Lederstiefel. Wir hoffen, dass ein echter Angriff auf unsere strammen Waden ausbleibt. Zur Not werden wir mit einem Stock in der Hand drohen. Damit haben andere Radreisende jedenfalls gute Erfahrungen gemacht. Vielleicht hilft ja auch unsere Trillerpfeife – die haben wir noch nicht ausprobiert.
Nach ein paar Tagen im romantischen Städtchen Vieste, wo sehr kräftiger Wind das türkis leuchtende Meer aufgewühlt hat, sind Micha und ich wieder zu Zweit unterwegs. Unsere Art des Reisen unterscheidet sich von Juliens und jetzt tut es allen gut, zum gewohnten Rhythmus zurückzukehren. In Bari buchen Micha und ich nochmals eine Ferienwohnung und erkunden in Ruhe die bunte Stadt, bevor es auf die Fähre nach Patras in Griechenland geht. Wir lieben es, in ganz anderen Häusern zu wohnen und einen Moment lang zuhause zu sein. Hier in Bari schauen wir vom Balkon auf eine der vielen Straßen, die das Gebiet außerhalb der verwinkelten Altstadt im Gitter durchziehen. Sie sind belebt, voller kleiner Läden, haben schicke Fassaden und einige marode Ecken. Dazwischen scheint die zunehmend wärmer werdende Sonne vom blauen Himmel. Noch ein letztes Mal feinste Pizza und cremigstes Gelato essen – und zum Abschied von Italien endlich auch in der noch frischen Adria schwimmen. Dann radeln wir am Abend des 23. Mai mit Sack und Pack zur Nachtfähre am Hafen.

10 Gedanken zu „Alpe-Adria: Über Berge ans Meer“

  1. Das sind sehr schöne Berichte und Fotos, die Freude machen, Euch digital zu folgen. Genießt die weiteren Etappen. Ich wünsche Euch weiterhin eine erlebnisreiche Reise mit vielen neuen Eindrücken.

    1. Traumhafte Eindrücke, ich wünsche euch eine ganz tolle Reise und freue mich sehr euren Abenteuer hier verfolgen zu können!
      Alex vom Yoga 🙂

  2. Wow, Gänsehaut!!! Vielen Dank für die tollen Reiseberichte und die schönen Fotos. Ich wünsche Euch ganz viel Freude und drücke die Daumen, dass es weiterhin gut rollt! Herzliche Grüße, Ute

  3. Liebe Suse, lieber Micha, welch‘ eine Freude, eure Berichte zu lesen und währenddessen das Gefühl zu haben, dabei zu sein. Ihr erlebt so intensiv und lasst den Leser wunderbar an den Erlebnissen, Begegnungen und Gefühlen teilhaben. Wir danken euch dafür und wünschen euch weiterhin eine tolle Reise, die viel Freude & Zufriedenheit bringt und für zahlreiche schöne Begegnungen sorgt.

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