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Kasachstan bis Kaukasus: Von der Steppe bis ans Meer

Wie kommen wir von Zentralasien zurück nach Europa? Weil Micha und ich den Landweg nehmen wollen, haben wir uns für die Route über Kasachstan, Russland sowie Georgien entschieden. Das sind fast viertausend Kilometer, davon größtenteils Steppe und Halbwüste, die wir vor allem im Zug durchqueren. So können wir das Ende des Sommers im Kaukasus und am Schwarzen Meer verbringen, bevor wir im Süden der Türkei überwintern.

23. August 2024, nachmittags. Gleich nehmen wir Abschied von der Bergwelt Kirgistans. Die letzte Etappe bis an die Grenze nach Kasachstan war nochmal staubig und holprig. Jetzt, auf den allerletzten Kilometern, überrascht uns allerdings eine nagelneue Straße, glatt wie eine Landebahn. In Schlangenlinien gleiten wir glücklich über den schwarzen Asphalt, auf dem noch die Markierungen fehlen, und radeln den flachen Grenzgebäuden am Horizont entgegen. Kräftiger Wind von hinten pustet uns hilfsbereit bis an den Schlagbaum des neuntgrößten Landes der Erde. Weil wir wie Fußgänger abgefertigt werden, sind Grenzübergänge mit Fahrrädern herrlich unkompliziert. Man läuft auf beiden Seiten einfach zum Schalter mit der Passkontrolle. Danach wirft ein Zollbeamter meistens nur einen kurzen Blick in zwei, drei Fahrradtaschen. Das war’s. Wir sind in Kasachstan.
Hier im äußersten Südosten ist das Land, das für seine weite Steppe bekannt ist, eher bergig und grün. Wir sehen trotzdem schon die ersten Kamele, die überhaupt noch nicht in die Landschaft passen. Sie hocken in der Nähe der Landstraße auf dem Gras und lassen sich den Wind um die Höcker und ihre weichen Schnauzen wehen.
Bis in die einstige Hauptstadt Almaty, die wir ohne große Umwege ansteuern, werden wir vier Tage brauchen. Auf der breiten glatten Straße brettert an den ersten beiden Tagen viel Verkehr an uns vorbei. Wind von vorn bremst uns aus. Wir sind froh, wenn wir am Ende des Tages unser Zelt aufstellen können. Schöne Plätze gibt es genug. Kurz vor Almaty führt unsere Route direkt an einem hellgrau-staubigen Tagebau vorbei. Die Straße ist eng und wir werden ununterbrochen von dröhnenden Lastwagen überholt, die von und zur Mine fahren. Bald darauf rollen wir dann in die größte sowie angeblich schönste Stadt Kasachstans hinein. Zwei Millionen Menschen leben in Almaty, neben Kasachen auch viele Russen, Usbeken sowie Uiguren. Die geradlinigen Straßen im Zentrum sind gesäumt von großen Laubbäumen und führen entlang an Restaurants mit Essen aus aller Welt, an „westlichen“ Einkaufszentren, neuen Wohnhäusern sowie an Parks und markanten Gebäuden der sowjetischen Moderne. Am Horizont guckt man auf die schneebedeckten Berge Kirgistans, die nur etwa dreißig Kilometer entfernt sind. Nur die vielen Autos und Ampeln stören.
Eine Woche lang wohnen wir in einem kleinen Apartment nördlich des Stadtzentrums. Dort sind die Häuser klein, niedrig und die Nachbarschaft fast dörflich. Drei Tage nach Ankunft haben wir einen Termin im russischen Konsulat, den wir bereits vor einigen Wochen vereinbart haben. Denn wir müssen uns ein Visum besorgen, um von Kasachstan nach Georgien zu gelangen. Im Moment stellt Russland Transit-Visa für 78 Euro mit einem Aufenthalt von höchstens zehn Tagen aus. Wir müssen lediglich einen Antrag mit Foto einreichen. Eine Woche später können wir unsere Pässe mit dem Visum abholen. In der Zwischenzeit treffen wir uns mit Reisefreunden, schreiben für den Blog, ziehen neue Schwalbe-Reifen auf die Räder und feiern Michas Geburtstag. Almaty macht es mir leicht, ihn mit einem besonderen Tag zu überraschen. Er startet mit sonnigem Frühstück in einem schicken Café, danach geht’s zur Thaimassage und abends in den Jazz-Club. Es fühlt sich auf jeden Fall mehr nach Europa als nach Asien an.


_8. September 2024. Bis zum Bahnhof Almaty 2 sind es sieben Kilometer in den Norden der Stadt. Um 16:18 Uhr fährt dort unser Zug nach Atyrau am Kaspischen Meer ab. Tickets haben wir bereits, aber keine Ahnung, ob man uns erlaubt, die Fahrräder mit ins Abteil zu nehmen. Meistens lässt sich das erst am Bahnsteig klären. Für genug Stauraum haben wir vorsichtshalber ein komplettes Viererabteil gebucht.
Anderthalb Stunden vor Abfahrt stehen wir am Bahnhof. Noch steht nicht fest, von welchem Gleis der Zug abfahren wird. Nervös male ich mir die Situation aus, wie wir das Zugpersonal beim Einsteigen mit unserem Sondergepäck überrumpeln. Als der lange Zug am Gleis 1 einrollt und wir am richtigen Waggon ankommen, sind die beiden Zugbegleiter überraschend entspannt. Micha schiebt die Fahrräder durch den engen Gang ins Abteil und ich schleppe nacheinander die Taschen hinterher. Als der Zug pünktlich anrollt, lassen wir uns glücklich auf den Sitz fallen in Vorfreude auf 44 Stunden entspannte Fahrt. An den angeklappten Fensterluken im Gang lässt der Fahrtwind die dunkelblauen Vorhänge tanzen. Zweieinhalbtausend Kilometer lang wird die größte Trockensteppe der Welt an der leicht trüben Fensterscheibe des Abteils vorbeiziehen. Als es Abend wird und die Sonne verschwunden ist, schunkelt und rumpelt uns der Waggon in den Schlaf. Manchmal scheint er fast aus den Schienen zu springen.
Der Zug hält mehrmals für etwa zehn Minuten an kleinen Bahnhöfen, auf deren Bahnsteig Frauen an Verkaufsständen frische Teigwaren, Obst und Getränke anbieten. Nach etwa der Hälfte der langen Strecke kommen wir in der Nähe des Aralsees an Baikonur vorbei. Dieser Ortsname ist uns vor allem aus der Schulzeit vertraut. Als Kinder der DDR präsentierte man uns den sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin wie einen Popstar. Ein Star, der von Baikonur aus als erster Mensch ins Universum flog und in 108 Minuten unseren Planeten umrundete. Das Kosmodrom von Baikonur ist der erste und nach wie vor größte Weltraumbahnhof der Erde.
Der Zug ist nicht nur pünktlich losgefahren, sondern kommt auch pünktlich in Atyrau an. In der Stadt nahe am Nordufer des Kaspischen Meeres sind wir geografisch wieder in Europa angekommen – aber nicht sofort. Atyrau liegt nämlich, wie ansonsten nur noch Istanbul, gleichzeitig auf zwei Kontinenten. Der Bahnhof befindet sich noch im asiatischen Teil. Um einen Fuß auf Europa zu setzen, müssen wir hinüber auf die andere Seite des Ural-Flusses, der mitten durch die Stadt fließt.
Die Region Atyrau ist das Herz der kasachischen Erdölförderung, mit der das Land reich wurde.
Allerdings spiegelt die Stadt diesen Reichtum äußerlich kaum wider. An vielen Stellen hat der Ort in unseren Augen eher den Charme eines Gewerbegebietes. Im Zentrum wurde am Ural entlang zwar eine lange moderne Parkpromenade gebaut, aber die gepflasterten Wege sind schon brüchig und die hellen Sonnensegel vom vielen Wind zerrissen.
Wir verlassen Atyrau in Richtung Wolgadelta im äußersten Westen Kasachstans. Vier Tage lang werden wir durch die Steppe bis an die russische Grenze radeln. Diese Strecke war lange Zeit eine übelst zerfressene Straße mit mehr Schlaglöchern als Asphalt. Mittlerweile ist sie durchweg erneuert. Die letzten Kilometer, die noch fehlten, werden in diesen Tagen fertig gestellt. Auch mit dem Wetter haben wir Glück. Es ist sonnig, tagsüber um die dreißig Grad und kräftiger Rückenwind schiebt uns manchmal bis zu 35 Kilometer pro Stunde über die Straße. Die wenigen Dörfer, die wir in der kargen Landschaft passieren, sind eine zweckmäßige Ansammlung flacher Häuser und wirken trotz blauem Himmel ziemlich trostlos. Vielleicht fehlen einfach die Bäume. Schöner als die Orte sehen die vielen Friedhöfe aus, die wie kleine Wüstendörfer in der Steppe stehen. Jedes ihrer Gräber ist wie eine kleine Burg sandfarben ummauert, manche mit kleinen Türmen. Die hübscheste Abwechslung auf dem Weg sind allerdings die majestätischen Kamele, die hier ihren Ursprung haben. Sie gehören zur Kamel-Art der Trampeltiere mit zwei Höckern auf dem Rücken. Man könnte meinen, es seien wildlebende Tiere, aber heutzutage sind fast alle Kamele in Kasachstan domestiziert. Womöglich haben sie noch nie einen Radreisenden gesehen. Denn wir können oft schon von Weitem ihre verwunderten Gesichter erkennen, sobald sie uns entdecken. Wenn Micha und ich an ihnen vorbeifahren, bleibt die ganze gemächlich dahin schreitende Herde stehen und dreht zeitgleich ihre Köpfe mit uns mit.


Als wir an der russischen Grenze ankommen, passieren wir problemlos die Einreise- und Gepäckkontrolle. Jedoch bevor wir weiterfahren dürfen, führt uns ein junger Beamter im Anzug freundlich zu einem Sicherheitsgespräch in ein Containerbüro auf dem Gelände. Wir nehmen an einem kleinen Schreibtisch platz, auf dem ein Stapel A4-Blätter liegt, und werden gebeten, schriftlich ein paar Fragen zu beantworten. Der einseitige Fragebogen soll unsere persönliche Einstellung zur Ukraine und Russland erfassen. Zum Beispiel: „Denken Sie, dass die Krim zu Russland oder zur Ukraine gehört?“ oder „Welche Einstellung haben Sie zu den Menschen in Russland?“ Der Beamte bemerkt, dass wir etwas zögern. Es reiche aus, wenn wir „neutral“ als Antwort aufschreiben, sagt er dann. Als die Pflicht getan ist, wünscht er eine gute Weiterreise und verabschiedet sich mit den Worten „You are free now.“
In Russland kann man leider nicht von Freiheit sprechen. Die Menschen im Land müssen aufpassen, was sie wem erzählen. Jetzt, wo wir ein paar Tage im Land sind, schwingt das in unseren Köpfen mit. Manche sagen es uns direkt ins Gesicht: Wenn sie die Regierung kritisieren, riskieren sie das Gefängnis.
Wir wollen die kurze Zeit vor allem nutzen, um die Hauptstadt der autonomen Republik Tschetscheniens zu besuchen, die während beider Kriege mit Russland in den 1990er- und 2000er-Jahren in Schutt und Asche gelegt wurde. Heute sind in Grosny kaum noch Spuren davon zu sehen – zumindest auf den ersten Blick. Als wir nach einer rasanten Fahrt im Minibus im Dunklen dort ankommen, fahren wir durch eine extrem aufgeräumte und moderne Stadt, deren glänzende Hochhäuser und gewaltigen Moscheen im Las-Vegas-Stil beleuchtet sind. Die Kulisse ist ziemlich beeindruckend, wenn man bedenkt, dass der Krieg gerade mal 15 Jahre her ist. Seitdem floss viel Geld aus Moskau an den umstrittenen Machthaber Tschetscheniens und in den enormen Wiederaufbau der Stadt. Der neue Prunk in Grosny soll vor allem das Bündnis mit Russland präsentieren.
Am nächsten Tag fahren wir auf der begrünten Putin-Allee, damals Straße der Freiheit, durch die Innenstadt und kommen am vergoldeten Achmat-Kadyrow-Museum sowie an riesigen Plakaten von Putin und Ramsan Kadyrow vorbei. In der Fußgängerzone laufen die Menschen unter aufgehängten Regenschirmen hindurch, deren bunte Farben sich vor strahlend blauem Himmel abheben. Junge Frauen haben ihre hübschen Gesichter mit Tüchern umhüllt. Die meisten Männer tragen dichte Vollbärte, oft ohne Oberlippenbart. Mit der Machtübernahme hat Kadyrows in Tschetschenien die Scharia eingeführt.
Als wir über den riesigen Zentralplatz zur neuen Kadyrow-Moschee fahren wollen, werden wir von einem Soldaten gestoppt. Der Platz sei dieses Wochenende gesperrt, denn in Grosny findet ein wichtiges Kampfsport-Event statt, das von einer Militärschau begleitet wird. Tschetschenen lieben Kampfsport wie Ringen und Boxen. Es ist und bleibt ein kämpferisches Volk, was Kadyrow gerne zur Schau stellt.
Micha und ich werfen einen Blick in die Kadyrow-Moschee, die die größte Moschee Russlands ist. Als Frau darf ich nicht in den großen Kuppelsaal und muss einen gesonderten Eingang nehmen. Jede Besucherin muss vorher in einen Jilhab schlüpfen, den man sich am Eingang ausleihen kann. Später laufen wir noch weiter durch gepflegte Parks und vorbei an großen Baustellen, auf denen noch mehr Hochhäuser entstehen, die im Sonnenlicht glitzern werden. Als wir fragen, wer in all den schicken Wolkenkratzern wohnt, erfahren wir, das die Gebäude größtenteils leer stehen. Kein normaler Tschetschene kann sich dort eine Wohnung leisten. Es ist unmöglich für uns, hinter die Fassade von Grosny zu blicken. Wir kommen an drei Tagen in Grosny kaum in Kontakt mit den Menschen.
Morgens um 8:30 Uhr steigen wir am Busbahnhof im Westen der Stadt ein weiteres Mal in einen Minibus, der uns und sieben tschetschenische Frauen direkt nach Tiflis bringt. Unsere Fahrräder werden zwischen die Sitzreihen gequetscht. Niemanden stört das. Dann startet eine rasante Fahrt über die russische Grenze und den Kaukasus, denn der tschetschenische Fahrer ist verrückt. Er beschleunigt den Sechs-Zylinder Mercedes Sprinter wie einen Sportwagen. Die Landstraße durch die wunderschönen Berge Georgiens sind voller Autos und Lastwagen – und alle werden von uns überholt.
Wir kommen unversehrt in Tiflis an und lassen uns am nördlichen Stadtrand an der Straße absetzen. Von hier aus radeln wir ein paar Kilometer zu unserer Freundin Ani und ihrer Familie, bei der wir vor fast genau einem Jahr schon mal zu Besuch waren. Die letzten zwölf Monate huschen im Schnelldurchlauf durch meinen Kopf. Unfassbar, was Micha und ich seitdem alles erlebt haben.
Bei Ani dürfen wir uns wieder wie zuhause fühlen. Wir sind sehr vertraut miteinander, erzählen viel und haben Spaß zusammen. Sie ist außerdem eine hervorragende Köchin und verwöhnt uns wie immer mit georgischer Küche. Anis Mann Schotiko ist selbstständiger Handwerker und geht sieben Tage die Woche arbeiten. Als talentierter Allrounder restauriert er in Tiflis ganze Wohnungen. Die Töchter Sharlote und Natali gehen von 9 bis 12:30 Uhr in die Schule. Jeden Abend unterrichtet Ani die beiden noch zusätzlich. Die staatliche Schule bringe den Kindern heutzutage kaum etwas bei, sagt sie. Ohne den Unterricht zuhause ginge es nicht.

Die letzten Sommertage sind warm und meistens sonnig. Wir machen mit den Kindern einen Ausflug in den Freizeitpark, besuchen Anis Cousin in Kachetien und helfen dort einen Tag lang bei der Weinernte und am Ende feiern wir noch Anis Geburtstag. Nach zwei Wochen und drei Kilo mehr auf den Rippen wird es dann Zeit, die Räder zu bepacken und weiterzuziehen. In fünf Etappen soll es über den Kleinen Kaukasus bis ans Schwarze Meer gehen.

Es ist schön, wieder im Sattel zu sitzen. Bei jedem Losfahren überkommt uns ein Gefühl von Freiheit. Und die Neugier, was uns als nächstes erwartet. Auf der Landstraße nach Gori kommt uns am ersten Tag ein Mann auf dem Fahrrad entgegen. Er hält freudestrahlend an, um uns mit einem Händedruck zu begrüßen und eine gute Reise zu wünschen. Danach trennen sich die Wege auch schon wieder. Etwa eine Stunde später werden wir von einem Scooter überholt. Es ist derselbe Mann wie auf dem Fahrrad. Aufgeregt stopp er uns, steigt vom Scooter, klappt die Sitzbank nach oben und holt ein Geschenk für uns heraus. Es sind zwei Kettenanhänger in Form eines Kreuzes und ein kleines goldgerahmtes Wandbild von Jesus. „Gott schütze Eure Reise!“ Georgi, so heißt er, ist wie die meisten seiner Landsleute ein gläubiger Mensch und wir sind sehr gerührt von seiner Geste. Er deutet auf den Scooter und gibt zu verstehen, dass er uns auf dem Fahrrad leider nicht hätte einholen können. Wir umarmen Georgi und dann düst er ein letztes Mal winkend davon.
Als wir am späten Nachmittag durch die Straßen von Gori zur Unterkunft fahren, fühlen wir uns sofort wohl in der kleinen Stadt. Die großzügig angelegte und mit Nadelbäumen eingerahmte Hauptstraße führt vorbei an bunten Geschäften und an einem prächtigen Rathaus, das nicht zufällig dem Berliner Reichstag ähnelt. Die breite Allee endet in einen kleinen Park mit palastähnlichem Museum, das seit 1957 an den weltberühmten Sohn von Gori erinnert. Museum, Park sowie Straße tragen seinen Namen: Josef Stalin.
Wir haben uns für den nächsten Tag mit Zhana verabredet, die uns einen Nachmittag lang durch ihre Heimatstadt führen wird. Bevor wir sie treffen, sehen wir uns das umstrittene Stalin-Museum an. Es steht symbolisch dafür, dass viele Georgier und Besucher den damaligen Diktator immer noch für einen Helden halten. Mit Kritik am berühmten Sohn der Stadt hält man sich deutlich zurück. Er ist immerhin ein Tourismusmagnet. Vor dem Eingang ins Museum befindet sich unter einem schützenden Pavillon das winzige bescheidene Haus, in dem Stalin als Josef Wissarionowitsch Dschugaschwilli geboren wurde. Die Ausstellung im Hauptgebäude hat sowjetischen Charakter und wirkt eher altbacken. In einem der Säle hängt Stalins Uniform in einer Vitrine. „Wie man an der Kleidergröße sehen kann, war dieser Mann eher mittelmäßig.“, so die zweideutige Bemerkung der Frau, die uns zusammen mit einer Gruppe indischer Touristen zügig und ansonsten ziemlich gleichgültig auf Englisch durchs Museum führt. Am Ende der Tour laufen wir draußen noch durch den gepanzerten Eisenbahnwaggon, mit dem Stalin, der Flugangst hatte, zur Potsdamer Konferenz anreiste. Danach treffen wir Zhana, mit der wir uns am Waggon verabredet haben.
Zhana, 32 Jahre alt, trägt eine schwarze Bobfrisur mit geradem Pony und lila glitzernden Lidschatten. Auf ihrem rechten Unterarm hat sie das georgische Wort für Freiheit tätowiert. Sie ist in Gori geboren und musste miterleben, wie ihre Stadt in der Mitte Georgiens im Sommer 2008 von russischen Streubomben angegriffen wurde. Heute wohnt sie in Tiflis und fährt jeden Tag eine Stunde lang im Minibus (Marschrutka) hierher, um Touristen den Ort Gori auch abseits des Stalin-Museums nahe zu bringen. Die unreflektierte einseitige Ausstellung des Museums findet sie beschämend. Am schlimmsten sei der Souvenirshop, der zum Beispiel T-Shirts, Taschen, Kühlschrankmagnete und Weinflaschen mit Stalins Gesicht bedruckt verkauft. Man solle endlich die Chance ergreifen, Menschen über den sowjetischen Terror und totalitäre Regime aufzuklären. Kürzlich hat Zhana als Protagonistin in einem Dokumentarfilm mitgewirkt, in welchem sie auf eine ältere Stalin-Verehrerin trifft – Titel: Goodnight, Mister Stalin.
Während wir mit Zhana durch die Stadt laufen und sie ihre Ansichten, Ängste und Träume mit uns teilt, wird sie freudig von den Straßenhunden begrüßt. Zuerst treffen wir den großen Doggo. Eine Ecke weiter kommt der schwarze freche Charly bellend angeflitzt – er ist der Boss im Revier. Drittes Mitglied unserer Runde ist die etwas dicke Huskydame Khatschapuri. Alle drei Streuner begleiten geduldig unsere Tour, wie sie es fast täglich tun. Zhana kennt jeden Straßenhund in Gori und alle Hunde kennen Zhana. Oktober sei für sie der traurigste Monat des Jahres, sagt sie. Da sei ihr Vater 2008 an einem Herzinfarkt gestorben, nachdem Gori bombardiert wurde. Zhana bringt uns zu einer großen Hauswand, die mit Einschusslöchern übersät ist und die ein Künstler mit einem großen Bild versehen hat. Das Mädchen auf dem Bild steht mit ihrem Vater an der Hand vor einem Stacheldrahtzaun. Dieser symbolisiert die georgische Grenze, die durch russische Soldaten willkürlich versetzt wird und dadurch georgische Dörfer über Nacht vom Land abtrennt. Das Mädchen hält eine große Schere in ihrer Hand. Zhana sagt, sie möchte wie das Mädchen sein, das Hoffnung hat. Viele ihre Freunde hätten keine Hoffnung mehr für ihre Heimat und seien deshalb ins Ausland gegangen. Jetzt warten alle sehnlichst auf einen Machtwechsel bei der Parlamentswahl am 26. Oktober. Das sei die letzte Chance für ein freies Leben in unserem schönen Land, sagt Zhana. Wir teilen ihre große Hoffnung und sind dankbar für ihre persönlichen Einblicke.


In Georgien fängt es langsam an, nach Herbst zu duften. Die ersten Laubbäume bekommen gelbe Blätter. In den Höfen und Gärten werden die prallen Weinreben gepflückt und in Fässern aus Plastik gärt bereits der erste Wein des Jahres. In den Unterkünften bekommen wir von der Gastfamilie oft stolz ein Glas ihres Hausweins gereicht.
Wir radeln auf hügeligen Landstraßen noch tiefer in den Kleinen Kaukasus hinein. Bevor wir den Goderzi-Pass auf 2.025 Metern angehen, besuchen wir Gocha in seinem Elternhaus im Dorf Benara. Wir haben Gocha damals durch Ani kennengelernt und nun treffen wir uns nach vielen Jahren wieder. Als wir in seinem Dorf ankommen, holt er uns an der Landstraße ab, damit wir gemeinsam zum Haus seiner Eltern fahren können. Es ist ein einfaches Haus, umringt von grasbewachsenen Hügeln und einem wilden Garten mit Obstbäumen. Auf den knarrenden Dielen der Veranda haben es sich vier Katzen und ein junger Hund, die Gocha allesamt von der Straße gerettet hat, in der späten Nachmittagssonne gemütlich gemacht. Seine Mutter hat heute einen riesigen Stapel Khatschapuri – flache weiche Fladenbrote mit salzigem Käse gefüllt – und helles Weizenbrot gebacken. Die Stapel sind noch warm und duften herrlich. Sie entschuldigt sich für das Chaos auf der vollgestellten Veranda. In der Erntezeit sei viel zu tun. Es wird Wein gemacht, Marmelade gekocht, Kompott eingeweckt. Gochas Eltern sind in erster Linie Selbstversorger.
Gocha arbeitet seit über fünfzehn Jahren als Lehrer an der Schule im Dorf. Er unterrichtet Englisch, aber sein Herz schlage für die deutsche Sprache, sagt er. Seine Mutter deckt den runden Holztisch in der Küche. Der Raum ist zweckmäßig eingerichtet, Gemütlichkeit ist nicht das Wichtigste. Es gibt dampfenden Rote-Beete-Eintopf. Während wir essen und erzählen, fädelt Gochas Mutter mit einer feinen Nadel geduldig Walnussstückchen auf einen Bindfaden. Die Nussketten taucht sie später in Traubensaftgelee. So mache man Churchkhela, sagt Gocha. Es ist eine uralte georgische Variante des Energieriegels.
Abends kommt sein Vater nach Hause. Er ist müde von der Arbeit im Sägewerk und wir trinken zusammen frischen Rotwein, den wir mitgebracht haben. Die Abende sind mittlerweile sehr kühl. Gocha steht im Dunkeln auf der Veranda und zieht nachdenklich an einer Zigarette. Früher sei es nicht leicht für ihn gewesen, hier zu leben. Heute ist er zufrieden, sagt er. Vielleicht wechselt er nächstes Jahr den Job. Sein Bruder in Rustawi meint, er könne mit seinen Sprachkenntnissen viel besser als Tourguide arbeiten. Als wir gute Nacht sagen und Micha und ich im alten Schlafzimmer ins knarrende Holzbett krabbeln, ist Gochas Mutter noch immer in der Küche zugange.
Am nächsten Morgen lockt uns früh die Sonne auf die Veranda. „Warum schlaft ihr nicht aus?“, fragt Gocha. „Heute steht der Goderzi-Pass an.“, antworte ich. Der sei nicht sehr schwierig zu fahren, meint Gocha. Das sagt er nur, weil er noch nie mit einem bepackten Fahrrad unterwegs war. Nach einem herrlichen Frühstück schieben wir die Fahrräder durch das Hoftor auf die Dorfstraße und sagen auf Wiedersehen.
Es dauert ein paar Stunden, bis wir oben am windigen Pass ankommen. Die Straße nach oben ist auf dieser Seite fast durchweg asphaltiert und hat kaum Verkehr. An manchen Stellen konnten wir neben der neuen Straße noch den alten Schotterweg erkennen, über den wir 2008 mit unseren Emmen poltern mussten. Auf der anderen Seite vom Pass ist die Straße größtenteils im Bau. Wir radeln an mehreren Baggern vorbei, die Berge an Erde und Steinen abtragen. An einigen Stellen ist der Weg noch genauso schlimm wie damals. Wir sind froh, dass es bergab geht.
Nach einer Nacht im Dorf Khulo lassen wir die Berge des Kleinen Kaukasus hinter uns und kommen durchnässt von Gewitterregen in der Touristenhochburg Batumi am Schwarzen Meer an. Der kilometerlange Boulevard am Strand hat eine unglaubliche Skyline mit herausragenden Hochhäusern unterschiedlichster Architektur. Wir sind plötzlich in einer ganz neuen Welt. Unser kleines Apartment in einem der Wolkenkratzer, in das wir für die nächsten Tage einchecken, liegt im 45. Stock. Von dort oben haben wir einen Wahnsinnsblick auf das Meer, die Berge im Hintergrund und die Stadt, die wir nochmal ganz neu erkunden werden. Als wir vor 16 Jahren das erste Mal hier waren, war Batumi noch ein altsowjetischer Urlaubsort mit wenigen Besuchern, hauptsächlich maroder Bausubstanz und ein paar unattraktiven Unterkünften. Heute versetzen uns die neu gepflanzten Palmen am schicken Boulevard schnell in Urlaubsstimmung. Leider scheint nur zwei Tag lang die Sonne, dann schieben sich fette Wolken über Batumi, ein Sturm peitscht das Meer auf und nachts grollen Gewitter über die Dächer. Uns bleibt nichts anderes übrig, als besseres Wetter abzuwarten, bevor wir in die Türkei radeln.

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