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Klöster, Ladas, Fladenbrot: Reise durch den armenischen Herbst

Nun, wo die sommerliche Hitze überstanden ist und wir durch den armenischen Herbst reisen, macht Radfahren wieder Spaß. Micha und ich sind happy mit der Wahl unserer Reisegefährte und möchten nicht tauschen: nicht gegen Motorräder, nicht gegen ein Auto. Trotzdem wird das eine einmalige Sache sein. Denn wir denken nicht, dass wir eine Langzeitreise mit Fahrrädern in diesem Leben wiederholen werden. Das stand eigentlich schon fest, bevor wir in Berlin losgefahren sind. „Noch haben wir Lust und Energie dazu.“, sagten wir uns. Und das stimmt auch. Es ist erstaunlich, was wir aus unseren Körpern in der Mitte des Lebens herausholen können und welche Kräfte auf den vollbepackten Fahrrädern freitreten. Mittlerweile ist es uns auch egal, wenn der Verkehr zehnmal schneller an uns vorbeirauscht und wir nach stundenlangem Gestrampel gerade mal einen Motorradkatzensprung vorangekommen sind. Lästig sind nur die Lastwagen auf den meisten Landstraßen Armeniens, die am Berg ordentlich Stoff geben müssen und dabei schwarze Rußwolken in unsere Gesichter blasen. Auch von den vielen schönen alten Ladas strömt ein längst vergessener Abgasgeruch durch unsere Nasen. Er erinnert uns an unsere Kindheit in der DDR. Micha ist voller Nostalgie beim Anblick der vielen russischen Oldtimer in Armenien, von denen die meisten dreißig bis vierzig Jahre alt sind.

Freitag, 22. September 2023. Heute Vormittag haben wir die Grenze von Georgien nach Armenien überquert. Im Moment ist das kleine Land im südlichen Kaukasus wegen einer Flüchtlingskatastrophe aus Bergkarabach in den Schlagzeilen, nachdem Aserbaidschan die armenisch bewohnte Region vor drei Tagen militärisch erobert hat. Für uns beide ist Armenien noch ein unbekanntes Land. Es zählt zu den ältesten Ländern der Welt. Die Armenier sind stolz auf ihre reichhaltige alte Kultur und darauf, die erste christliche Nation in der Geschichte zu sein. Typische Fotomotive sind die zahlreichen alten Kirchen sowie Klöster, die oft an besonders schönen Orten liegen. Das armenische Volk wurde oft vertrieben, verfolgt und Opfer eines Genozids. Heute leben zwei Drittel der weltweit zehn Millionen ethnischen Armenier in der ganzen Welt zerstreut.

Wir steuern als Erstes einen kleinen Campingplatz in Haghpat an. Das Bauerndorf liegt auf einem saftig grünen Bergplateau, das der Debed-Fluss mit einer tiefen, breiten Schlucht zerklüftet hat. Kurz vorm Ziel müssen wir von der Straße im Tal abbiegen und drei steile Kilometer hinauf zum Dorf radeln. Das dauert gefühlt eine Ewigkeit, denn die Fahrräder sind am Berg so beweglich wie ein Riesensack Kartoffeln und unsere Beine müde. Oben angekommen werden wir mit einer unwirklich schönen Aussicht und einem herrlichen Spot fürs Zelt belohnt. Der kleine Platz wird von Martin betrieben – ein netter Typ in Kapuzenpulli, der in dieser Gegend aufgewachsen ist und den Winter über in Jerewan lebt. Eigentlich hat er die Saison gerade beendet, aber wir dürfen trotzdem gerne bleiben. Am nächsten Tag besuchen Micha und ich das mittelalterliche Kloster ganz oben im Dorf. Wir gehen durch ein Tor, laufen über kurzes frisches Gras und alte Steinplatten auf die dunkelgraue Klosterkirche zu. Dieser Ort existiert seit etwa 1.300 Jahren. Alles wirkt, als wären wir in einer alten Zeit. An den massiven Außenwänden der Kirche sind unterschiedlich große christliche Kreuze ins Gestein graviert. Armenische Kreuze haben ein pflanzenähnliches Design mit blättrigen Enden. Weintrauben und Granatäpfel als Teil armenischer Kultur sind ebenfally häufig in Gravuren an Gebäuden zu erkennen. Ich öffne die schwere Holztür der Kirche. Drinnen ist es duster und sehr spartanisch. Die Luft ist kalt und feucht. Auf einer Art Tischplatte flackert das zarte Licht kleiner dünner Kerzen.
Auf dem Rückweg durchs Dorf kaufen wir im kleinen Gemüseladen und im Dorfkonsum ein. Von den beiden Verkäuferinnen lernen wir, wie man sich auf Armenisch bedankt. Es ist das kompliziertes Danke, das wir bisher lernen mussten: Schnorrhakalutsjun. Zum Glück ist hierzulande auch ein einfaches „Merci“ oder „Apres“ üblich. Weil es keine Marmelade zu kaufen gibt, bietet uns eine Kundin im Konsum spontan an, ihr nachhause zu folgen. Auf den Dörfern versorgen sich die Menschen überwiegend aus dem eigenen Garten, vom Feld oder aus dem Wald. Marmelade wird natürlich selbst gemacht. Wir laufen der Frau über einen schmalen Schotterweg hinterher, der sich zwischen die Häuser einen Hügel hochschlängelt. In ihrer Plastiktüte trägt sie Brot und Zucker. Sie öffnet ein großes Metalltor und bittet uns auf den kleinen Hof ihres Hauses. „Ich heiße Satenik,“ sagt sie lächelnd und pflückt mir still eine weinrote Dalienblüte. Sie bittet uns, am Holztisch neben dem Haus Platz zu nehmen. Dann bereitet sie erst einmal Kräutertee auf einem kleinen Gasherd in einer überdachten Ecke des Hofes zu. Zusammen mit Brot, salzigem Käse und einer köstlichen Sauerampfersuppe stellt Satenik gleich mehrere Gläser eingeweckter Marmelade auf den Tisch: aus Erdbeeren, Maulbeeren, Aprikose. Satenik ist eine sehr liebe Frau, dass merkt man sofort. Nachdem wir eine Weile zusammen gegessen, erzählt und gelacht haben, suchen wir uns zwei Marmeladen aus. Bevor wir uns wieder verabschieden, zeigt sie uns noch ihren Garten und füllt unsere Tasche mit frischer Minze und Kräutern.

Die Reise geht weiter durchs Tal. Seit zwei Tagen ist der Himmel bedeckt. An den Berghängen der Kleinstadt Alawerdi, die wir als erstes durchfahren, rosten gewaltige ehemalige Bergbauanlagen vor sich hin. Der Ort war zu Sowjetzeiten bekannt für sein Kupfer- und Chemiekombinat. Heute prägen verlassene Industriegebäude die Stadt und die grauen Wolken verdüstern die Szenerie zusätzlich.
Mit Socken in Sandalen radeln Micha und ich über die Berge. Das Wetter bleibt wechselhaft. Genauso ist es mit den Klamotten. Auf dem Rad tauschen wir ständig Regenjacke, Pulli und T-Shirt hin und her. Als wir die Kleinstadt Dilijan erreichen sind wir umgeben von dicht bewaldeten Bergen, die jetzt im Frühherbst jeden Tag etwas bunter werden. Die Region galt schon immer als Erholungsort. Zur Sowjetzeit kamen Moskauer Genossen gerne zur Kur hierher. Wir finden ein Zimmer bei Xenia und Sergej. Die beiden sind vor etwa einem Jahr mit ihrem jungen Sohn aus Russland hierher ausgewandert. Oder besser gesagt: aus Belgorod geflohen. Sie sind sehr interessiert, freundlich und offenherzig. Sergej spricht gutes Englisch und wir führen lange, gute Gespräche mit ihm. Es ist das erste Mal, dass wir uns mit Leuten aus Russland über den Krieg und ihre Gefühle unterhalten. Obwohl wir aus unterschiedlichen Lebenssituationen kommen, haben wir auch allgemein viele gemeinsame Ansichten und Vorstellungen.

Nach einer Woche in Dilijan radeln wie weiter auf das Plateau zum Sewansee. Auf halbem Weg spurtet vom Berghang plötzlich ein dunkelbrauner, zotteliger Hund auf uns zu. Als hätten wir seinen Schutz bestellt, springt er fortan bellend jedes Fahrzeug an, das uns passiert. Und die Landstraße ist recht viel befahren. Wir haben jedes mal Angst, dass er angefahren wird. Er lässt es sich leider nicht nehmen, uns weiter zu folgen. Nach einer Weile biegen wir vor einem Tunnel auf eine einsame Straße ab, die über den Berg führt. Sie ist steil. Wir sind daher sehr langsam unterwegs. Der treue Begleiter wartet geduldig an jeder Serpentine und motiviert uns schwanzwedelnd zum Weiterfahren. So geht das fast zwanzig Kilometer. Als wir über dem Berg sind und wieder schneller fahren, versucht er mit aller Kraft dran zu bleiben. Unser neuer Freund ist sichtlich müde. So kann es nicht weitergehen. Im nächsten Ort stellen wir beide Räder an einer Tankstelle ab und verstecken uns dort im Warteraum – in der Hoffnung, dass der liebe Vierbeiner das Interesse verliert. Mittlerweile regnet es in Strömen. Es ist kalt draußen und das treue Tier hat sich wartend neben unsere Fahrräder auf den nassen Boden gelegt. Micha und ich sind ratlos. Es dauert eine dreiviertel Stunde, dann steht er auf, schüttelt sein tropfendes Fell und schleicht suchend um die Tankstelle. Als unsere Räder für einen kurzen Moment aus seiner Sichtweite sind, flitzen wir nach draußen und hauen ab. Es tut so weh, sich auf diese miese Tour davonzustehlen. Dicke Tränen kullern über meine kalten Wangen. Wir können nur hoffen, dass uns der liebe Streuner verzeiht und es ihm gut geht.


Wir machen zwei Tage Regenwetterpause in Sewan – eine Kleinstadt am Ufer des Sewansee auf etwa zweitausend Metern. Als die Sonne zurück ist, fahren wir am großen See entlang nach Lichk. Auf den Bergspitzen ringsum hat sich Schnee gelegt und der Kontrast zum tiefen Blau des Wassers macht das Landschaftspanorama perfekt. Lichk ist ein größeres Dorf mit zwei Schulen, einem kleinen Supermarkt und einer Postfiliale. Die verstreuten Häuser sind auf und zwischen die Hügel gebaut. Neben wenigen asphaltierten Straßen ziehen sich vor allem unbefestigte schmale Wege durch den Ort. In den Gärten sieht man volle Apfel- und Granatapfelbäume. Zum Abend hin laufen braune Kühe von allein durchs Dorf zurück in ihren Stall.
Als wir am Haus von Gari und seiner Frau Lala ankommen, buddeln sie gerade dicke Kartoffeln aus der dunkelbraunen, feuchten Erde ihres Gartens. Ihre erwachsenen Kinder sind längst aus dem Haus und sie vermieten ein paar der Zimmer an Touristen. „Ich liebe es, wenn Gäste kommen,“ sagt Gari mit einem glücklichen Gesicht. Und es kommt viel Besuch, denn die Leute fühlen sich hier schnell wie zuhause. Wir dürfen ins Wohnzimmer einziehen, das sie mit einem großen Ehebett zum Gästezimmer umfunktioniert haben. Oben auf der Schrankwand stehen große Porträtbilder der Großeltern. An der Fensterseite steht ein kleiner Tisch mit einem großen schwarzen Röhrenfernseher.
Gari und Lala arbeiten als Lehrer im Dorf. Auf dem Fensterbrett in ihrer Küche steht ein Blumenstrauß, den Lala zum heutigen nationalen Lehrertag geschenkt bekommen hat. Am Abend kommen noch drei andere Reisende an. Gari nimmt einige Brocken getrockneten Kuhmist und macht ein kleines Lagerfeuer im Garten. In der Glut lässt er frisch geerntete Kartoffeln garen. Obwohl Gari etwas älter ist, steckt irgendwie noch was von einem Dorfjungen in ihm.

Über den Selim-Pass geht’s südwärts weiter bis zum wohl bekanntesten aller Klöster in Armenien: zum Kloster von Tatew. Wir legen insgesamt eine Menge Höhenmeter zurück – zusammen mit etlichen Lastwagen, die zumeist vom Iran her über die Straßen rollen. Außerdem dröhnen auf dem Weg nach Süden jetzt auch öfter große Militärfahrzeuge an uns vorbei. Die langen Autoketten geflüchteter Menschen aus Bergkarabach sind mittlerweile nicht mehr auf der Straße.
Es ist Freitag, der 13. Oktober. Auf dem Weg nach Tatew steigen wir in Halidzor mit den bepackten Fahrrädern in die weltweit längste Seilbahn ihrer Art. Die sogenannte „Wings of Tatev“ schwebt seit dreizehn Jahren in zwölf Minuten über zwei Täler nach Tatew und führt dabei über die spektakuläre Worotanschlucht. Die millionenschwere Investition sollte für touristischen Aufschwung sorgen, doch die Konflikte im nahe gelegenen Bergkarabach bremsten den Erfolg. Auch im Moment bleiben Touristen lieber fern.
Als wir in die moderne Gondel einsteigen, ist es leider extrem nebelig. Nach der Hälfte der Strecke stoßen wir plötzlich durch die weiße Wolkenwand in den klaren Sonnenschein und erleben zum Glück noch diesen Wow-Ausblick, den wir uns erhofft haben. Ich bin außerdem froh, dass uns die steile, unendliche Serpentinenstraße, auf die wir von der Gondel aus schauen, erspart blieb. Die Lastwagen, die sich langsam nach oben quälen, sehen von oben aus wie kleine Spielzeugautos.
Als wir aus der Gondel aussteigen, ist uns beiden etwas übel von der schwankenden Fahrt. Wir werden von zwei freundlichen Hunden begrüßt und laufen zum berühmten Kloster, das gleich um die Ecke auf einem Felsvorsprung thront. Der abgeschiedene Ort soll einst spirituelles und kulturelles Zentrum Armeniens gewesen sein. Als wir in Tatew zur Unterkunft weiterfahren, radeln wir auf unbefestigten Wegen durch ein kleines bescheidenes Dorf, das scheinbar kaum vom Klostertourismus profitiert. Immerhin werden einige einfache Zimmer vermietet und es gibt einen kleinen Einkaufsladen.


Tatew ist der südlichste Punkt unserer Armenienreise. Von hier aus radeln wir etappenweise wieder nordwärts bis nach Jerewan. Zuerst geht es einen Tag lang auf einer kaum befahrenen neuen Landstraße über die Berge des Worotan-Tals. Diese Ruhe auf der Straße erleben wir selten in Armenien. Bevor wir in die Großstadt eintauchen, verbringen wir noch eine Woche auf dem liebevoll hergerichteten Campingplatz in Getap. Hier sind wir in einem alten, urgemütlich ausgebauten jugoslawischen Bus zuhause. Wir lieben solche Pausen. Denn es tut gut, nicht ständig den Ort zu wechseln und einfach nur da zu sein. Immer wieder kommen andere Reisende für ein, zwei Nächte auf den Platz und unterhalten uns mit ihren unterschiedlichsten Lebens- und Reisegeschichten. So viel gute Energie.

In Jerewan haben wir ein kleines Apartment mit Terrasse gefunden, von der aus man auf die Stadt und den heiligen Berg der Armenier blicken kann: den Ararat. Quasi um die Ecke liegt außerdem die „Ararat“-Fabrik. Hier wird der gleichnamige Armenische Weinbrand hergestellt – eines der vielen Kulturgüter des Landes. Das Wetter ist gerade warm und sonnig – perfekt, um die schöne Hauptstadt zu erkunden. Vorher besorgen wir noch passende Kartons, in denen wir die Fahrräder sowie das restliche Gepäck für den Flug ins nächste Land verpacken können. Es geht nach Indien – ein Land, das wir schon dreimal auf Motorrädern bereist haben. Wettervorhersage: Sonne, 35 Grad, schwüle Luft. Es ist das erste Mal, dass wir mit Fahrrädern im Gepäck fliegen. Das erste Mal, dass wir Mumbai besuchen. Und dort werden wir bereits von mehreren Leuten erwartet.

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