Es war die beste Entscheidung, einem ungemütlichen Herbst und Winteranfang zu entkommen. Zwei Monate lang radelten wir etwa tausend Kilometer an der türkischen Mittelmeerküste entlang – von Mersin bis Bodrum. Das Wetter war perfekt, überall hingen saftige Orangen und Limonen an den Bäumen und wir hatten viele faszinierende Ausblicke auf das türkisblaue Meer. Der Kontakt zu den Einheimischen war im Allgemeinen weniger intensiv als in anderen Teilen der Türkei. Dafür kamen uns gleich mehrere andere Radreisende entgegen, was jedes Mal spannend ist.
23. Oktober 2025. Bei herrlicher Morgensonne radeln wir aus Batumi los. Die Grenze zur Türkei bei Sarpi ist nur noch zwanzig Kilometer entfernt. Wieder kommen Erinnerungen hoch – diesmal an den Sommer 2008, als wir zum ersten Mal lange durch Asien reisten. Damals überquerten wir diese Grenze auf Motorrädern, aus der anderen Richtung. Es war kurz vor dem Halbfinale der Fußball-EM, Türkei gegen Deutschland – ein Spiel, das die Türkei damals verlor. Wochenlang war das Land im Fußfallfieber und man sprach uns ständig auf deutsche Fußballgrößen an.
Von einem modernen Grenzgebäude, wie es heute steht, war damals keine Spur. Stattdessen prägten Baracken das Bild, und niemand wusste so recht, wohin man als nächstes gehen musste. Nach einigem Suchen fanden wir schließlich den Container für die Passkontrolle. Eine aufgeregte Menschentraube drängte sich vor dem winzigen Fenster. Jeder wollte seinen Pass als Nächster durch die enge Luke schieben, damit der Beamte ihn abstempeln konnte. Ab und zu schlug dieser den Leuten auf die Hände, um die Kontrolle zu behalten.
Heute reisen wir zum fünften Mal überland in die Türkei ein. Jetzt im Oktober tragen manche Menschen bereits Winterjacken, denn die Luft ist feucht und kühl. Über dem Schwarzen Meer schleichen schon wieder dunkle Regenwolken heran. Micha und ich freuen uns umso mehr auf die sonnig warme Südküste – der Teil der Türkei, der uns noch völlig unbekannt ist. Um möglichst schnell dort zu sein, werden wir in Rize in den Nachtbus nach Mersin steigen. Als wir am nächsten Tag den Busbahnhof erreichen, sind wir tropfnass und ausgekühlt vom Regen. Beim Hineinfahren in die Stadt hatte uns ein junger Japaner auf einem bepackten Klapprad überholt und ihm tropfte ebenfalls der Regen von der Nasenspitze. Seit mehreren Monaten radelt er durch Asien und möchte am Ende seiner Reise in Frankreich ankommen.
Wir wechseln in der Toilette am Busbahnhof unsere nassen Klamotten, packen die Taschen und Fahrräder in den Kofferraum des Reisebusses. Neunzehn Stunden lang fahren wir quer durchs Land ans Mittelmeer. Im zentralen Hochland der Türkei fällt währenddessen der erste Schnee.
Als wir am frühen Nachmittag am nördlichen Stadtrand von Mersin mit schlaffen Körpern aus dem Bus stolpern, blendet uns die Sonne und es sind angenehme 25 Grad. Wir schieben die Räder über die hellen Steinplatten des Platzes am Busbahnhof, machen uns startklar und radeln etwa acht Kilometer, leicht bergab, in die große Hafenstadt – direkt zur Wohnung von Mehmet und seiner jungen Familie. Wir hatten ihn letztes Jahr auf unserer Reise durch Ostanatolien getroffen. Er war mit seinem KTM-Motorrad unterwegs, hielt an, zog zwei frische Äpfel aus seinem Tankrucksack und schenkte sie uns. Mehmet lud uns ein, ihn in Mersin zu besuchen, falls wir noch einmal in die Türkei kommen. Und nun ist es tatsächlich soweit.
Obwohl wir nur zwei Tage bei ihm verbringen, gewinnen wir schnell einen Einblick in Mehmets Leben. Er wuchs in einer großen Familie mit vielen Geschwistern auf, in der Zusammenhalt und eine traditionelle Erziehung im Mittelpunkt standen. Heute hat er seine eigene kleine Familie mit seiner Frau Adile und ihren beiden jungen Söhnen. Während Adile den Haushalt organisiert, widmet sich Mehmet seiner kreativen Arbeit als Animationsfilmdesigner. Wie viele seiner Freunde vertritt er liberale Ansichten und genießt den modernen, westlich geprägten Lebensstil, den Mersin heute bietet. Die Stadt hat sich seit seiner Kindheit und Jugend rasant verändert: Wo früher Orangenplantagen standen, dominieren heute moderne Hochhäuser sowie Einkaufszentren. Entlang der kilometerlangen Uferpromenade, die mit separaten Spuren für Jogger und Radfahrer ausgestattet ist, reihen sich schicke Cafés, Spielplätze und grüne Parks aneinander. Das warme Sonnenlicht, die hohen Palmen entlang der Straße und die entspannte Atmosphäre erinnern an den Sunset Boulevard in Kalifornien. Doch dann erklingen die Rufe der Muezzine aus den Lautsprechern der Moscheen – spätestens in diesem Moment wird die besondere Mischung aus alter Geschichte, Tradition und Moderne spürbar.
Am nächsten Morgen, einem Samstag, begleiten wir Mehmet zu einem Trailrunning-Event ins hügelige Hinterland, bei dem mindestens hundert Läuferinnen und Läufer einen schönen Tag haben. Abends sitzen wir gemeinsam mit Besuch von weiteren Familienmitgliedern auf dem Wohnzimmerteppich in Mehmets Zuhause und genießen ein großes Abendessen, das Adile so selbstverständlich zubereitet hat. Sie haben regelmäßig Gäste, denn in türkischen Familien braucht es keinen besonderen Anlass, um sich gegenseitig zu besuchen. Damit die Familie mehr Platz hat, möchte Mehmet in naher Zukunft eine größere Wohnung kaufen. Doch seit eine extreme Inflation von teilweise über 70 Prozent die Türkei belastet, weiß niemand, wie es weitergeht. Der Alltag ist dadurch sehr teurer geworden. Die stark gestiegenen Preise für Lebensmittel, Mieten und Energie setzen viele Menschen unter finanziellen Druck.
Bevor wir uns von Mehmet verabschieden, gibt er uns noch Tipps zu den schönsten und spannendsten Orten entlang unserer Route an der Küste. Die Straßen am Meer entlang führen über endlose Hügel und Berge und haben teils extreme Steigungen. Eine Spazierfahrt wird das definitiv nicht, aber an diesem Punkt der Reise sind wir kaum etwas anderes gewöhnt. Außer in Brandenburg und Kasachstan sind wir so gut wie nie durch flaches Land geradelt. Immerhin ist jetzt das milde Wetter mit Tagestemperaturen um die 25 Grad perfekt für die Fahrt. So ideale Bedingungen hatten wir selten auf der Reise. Trotzdem kommen wir jeden Tag ins Schwitzen, denn unsere Fahrräder fühlen sich bergauf immer noch genauso träge an, wie zu Beginn der Reise. Doch inzwischen wissen wir, wie wir viele Höhenmeter am besten angehen – sowohl körperlich als auch mental – nämlich mit Geduld und Gelassenheit. Ein Berg ist kein Gegner. Wenn wir Tritt für Tritt nach oben fahren, fühlt es sich eher wie eine Meditation an. Man spürt gleichzeitig die Ermüdung und die Kraft. Und man weiß, dass es nach jedem Anstieg auch wieder bergab geht. Wenn wir schließlich auf der anderen Seite hinunter düsen und dabei das leuchtende Mittelmeer vor uns haben, werden wir jedes Mal mit einem Glücksgefühl belohnt.
Die Küstenorte sind anfangs wenig touristisch. Oft finden wir eine schöne Bucht, in der wir unser Zelt aufschlagen und den Abend am Meer genießen können. In Aydincik treffen wir uns nach einem langen Tag auf dem Rad mit Sarah (Instagram: @gonewiththebike). Sie ist mit dem Motorrad von Deutschland nach Indien unterwegs, und es ist mal wieder ein schöner Zufall, dass sich unsere Wege kreuzen. Vor acht Jahren hatten wir uns das erste Mal in Nordpakistan getroffen, als Micha und ich mit Motorrädern umher reisten. Unter anderem waren unsere damaligen Berichte ein Grund, warum Sarah selbst irgendwann auf Motorradreise gehen wollte, erzählt sie uns. Sarah machte den Führerschein, sparte das nötige Geld und startete dieses Jahr in ihr Abenteuer. Die Reise war bisher nicht immer leicht für sie, erzählt sie uns. Zum Beispiel musste sie mehrfach in die Werkstatt und hat ein bisschen das Vertrauen in ihr Fahrzeug verloren. Sarah ist eher eine zurückhaltende Person, aber das hält sie nicht davon ab, durch fremde Länder zu reisen. Ich bewundere sie dafür, das sie das alleine durchzieht.
Auf den nächsten Etappen bis ins berühmte Antalya kommen wir immer öfter an riesigen Gewächshäusern vorbei. Die Region um Anamur gilt als „Bananenhauptstadt der Türkei“ – hier wurden vor etwa neunzig Jahren die Früchte aus den Tropen erstmals angebaut. Unter den hellen Dächern und Plastikplanen der anderen Gewächshäuser in dieser Region gedeihen vor allem Tomaten, Gurken, Auberginen und Paprika. Ansonsten ist die Landschaft fast an der gesamten Südküste der Türkei von Olivenhainen sowie Plantagen mit dunkelgrünen Mandarinen- und Orangenbäumen geprägt, die im Herbst und Winter abgeerntet werden. Micha und ich pflücken jeden zweiten Tag eine Portion saftiger Granatäpfel, Limonen und Orangen von den vollen Bäumen am Wegesrand.
3. November 2024. Wir kommen in Alanya an, einen der beliebtesten Ferienorte der Türkei – und das völlig zu Recht. Die Küstenstadt hat einen besonders charmanten Flair – genau wie Side und Antalya, die uns als nächste Ziele erwarten. In Alanya fahren wir entlang eines Radwegs direkt am Meer in den Ort hinein. Auch jetzt, zur Nebensaison, begegnen wir noch vielen Urlaubern, vor allem aus Russland und Deutschland. Für die Türkei war 2024 ein touristisches Rekordjahr – so viele Besucher wie nie zuvor machten hier Urlaub, trotz der gestiegenen Preise. Besonders die Eintrittsgelder für touristische Sehenswürdigkeiten wurden teilweise unverschämt angehoben.
Am wunderschönen Kleopatra-Strand, mitten in Alanya, sind jetzt im November genügend Sonnenliegen leer, und die Eisstände haben kaum noch Gäste. Im Sommer muss es unerträglich sein, allein schon wegen der Hitze. Jetzt herrscht jedoch eine angenehme Ruhe. Das Meer ist erfrischend und wir können die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut genießen. Ich kann tagsüber im Sommerkleid und mit Sonnenbrille herumspazieren, ohne ständig Schatten suchen zu müssen. Auch das Personal in den Restaurants, Hotels und Geschäften wirkt entspannt. Ihnen tut die Ruhe wohl genauso gut wie uns.
Neben einem der schönsten Strände der Türkei liegt mitten in der Stadt noch eine andere Attraktion: eine 250 Meter hohe, bewaldete Halbinsel. Hier wandern wir durch die Überreste einer alten Festung und haben dabei immer wieder fantastische Ausblicke auf die Stadt, den bunten Hafen und das türkisfarbene Meer. Die gesamte Südküste der Türkei hat eine beeindruckende Geschichte. Davon zeugen viele alte Festungen, Burgen und antike Ruinen. Sie fügen sich perfekt in die malerische Landschaft ein und beflügeln unsere Fantasie. Besonders faszinierend finde ich die Relikte der Römer, die griechischen Amphitheater oder die lykischen Felsengräber. Es ist unglaublich, was Menschen bereits vor über zweitausend Jahren erschaffen haben und dass wir die ästhetische Architektur noch heute bestaunen können.
In Demre, dem antiken Myra, kommen wir passend zum Beginn der Adventszeit an der kleinen Kirche des Heiligen Nikolaus vorbei. Hier lebte vor rund 1.680 Jahren der berühmte Bischof, dessen außergewöhnliche Wohltätigkeit ihn bis heute unvergessen macht. Sein Todestag, der 6. Dezember, wurde zur Grundlage der Weihnachtsmannlegende.
Ein besonderes Highlight unserer Küstentour ist Patara, die ehemalige Hauptstadt der alten Lykier. Hier wandern wir mehrmals kilometerweit durch die beeindruckenden Ruinen und entlang des weitläufigen, unberührten Sandstrandes. Dabei begleiten uns drei äußerst hübsche Straßenhunde, die eine eingespielte Truppe sind. Übner zehn Kilometer lang leisten sie uns treu Gesellschaft. Wir versinken mit den Füßen in wüstenartigen Sanddünen und laufen auf den Hügeln durch duftende Pinienwälder. Es ist ein traumhafter Ort und wir können kaum glauben, dass wir ihn fast für uns alleine haben.
Die nächsten Etappen führen uns erneut über enge, aber steile Bergstraßen in Richtung Fethiye. Der November zeigt seine kühlere Seite. Beim Bergabfahren müssen wir uns die Daunenjacke über das verschwitzte Shirt ziehen, um im Fahrtwind nicht zu frieren. Auch die Tage sind kürzer geworden – morgens ist es bis um acht Uhr dunkel. Die Sonne kommt nur noch langsam hinter dem Berg hervor. Abends versinkt sie bereits um sechs.
An einer abgelegenen Straße auf dem Weg nach Ölüdeniz finden wir am Ende des Fahrtages einen stillen Platz für die Nacht mit herrlichem Ausblick auf das Meer. Obwohl die Umgebung verlassen scheint, begrüßt uns plötzlich ein sehr aufgewecktes und neugieriges Kerlchen, das augenscheinlich überglücklich ist, endlich Gesellschaft zu haben. Es weicht uns den gesamten Abend nicht von der Seite. Micha macht ein kleines Lagerfeuer und der kleine Freund setzt sich schnurrend auf seinen Schoß. Während die runde Sonne langsam ins dunkle Meer eintaucht, knistern die Äste im Feuer. Der Himmel leuchtet rot und orange. Wir sitzen zu dritt da und lassen dieses Naturschauspiel in vollen Zügen auf uns wirken. Als es Zeit wird, ins Zelt zu krabbeln, schlüpft unser kleiner Freund blitzschnell noch vor uns hinein und springt erwartungsvoll auf den Schlafsack. Doch hier ist nur Platz für zwei – Katerchen muss leider draußen bleiben. Vorsichtig setze ich Ihn hinaus und ziehe die Reißverschlüsse zu. Enttäuscht läuft er auf der Suche nach einem Schlupfloch einige Runden ums Zelt. Aber bald gibt er auf und sucht sich woanders eine Schlafstelle.
Am nächsten Vormittag heißt es, geduldig nach oben zu kurbeln. Doch die weiten Ausblicke auf die sanften Hügel, die sich in das tiefblaue Meer erstrecken und die felsigen Buchten, sorgen trotz der Anstrengung für gute Laune. Nach einer fantastischen und kurvenreichen Abfahrt erreichen wir Ölüdeniz – ein reiner Ferienort in einer malerischen Bucht, der zu dieser Jahreszeit wie ausgestorben wirkt. Am Strand finden wir ein ideales Plätzchen für die Nacht, mit sauberen Duschen und Toiletten in der Nähe. Am Eingang zum Strand müssen wir einen kleinen Eintritt bezahlen. Man versichert uns, dass es in Ordnung sei, für eine Nacht zu bleiben. Dennoch dreht ein Wächter kurz vor Sonnenuntergang seine Runde und deutet uns an, den Strand zu verlassen. Wir warten, bis es dunkel geworden ist und bauen still und heimlich unser Nachtlager zwischen den Büschen auf. Dann stellen wir fest, dass der Wächter nur ein kleines Stück weiter in einem Häuschen verschwunden ist – er scheint dort zu wohnen. Zum Glück taucht er nicht nochmal auf.
In der Nacht wird Micha von einem Rascheln und Grunzen geweckt. Eine Rotte Wildschweine läuft in der Nähe des Zeltes vorbei und stattet den Mülleimern am Strand einen Besuch ab. Als wir morgens unser Zeug zusammenpacken und uns zurück auf die Fahrräder schwingen, sind die Wildschweine immer noch unterwegs. Etwa vier Kilometer müssen wir vom Strand in Ölüdeniz bergauf in die eigentliche Stadt fahren. Die Straße ist so steil, dass wir den Großteil schieben müssen – bei diesem Grad der Steigung ein echter Kraftakt, den wir wortwörtlich schrittweise hinter uns bringen. Oben angekommen suchen wir ein sonniges Straßencafé und gönnen uns eine wohlverdiente Frühstückspause.
In den kommenden Tagen ziehen immer häufiger dunkle Regenfronten über die Küste, so dass wir mehrere Pausentage einlegen – sowohl in Fethiye als auch in Akyaka. Von dort sind es nur noch drei Etappen, bis wir Bodrum und damit das andere Ende der Südküste erreichen. Auf dem Weg kommt uns mal wieder ein anderer Langzeitradler entgegen. Am Ende werden es insgesamt sechzehn Radreisende sein, denen wir zwischen Mersin und Bodrum begegnen.
Diesmal ist es Mats, der direkt nach dem Abitur ins Abenteuer aufgebrochen ist. So jung, aber bereits voller spannender Gedanken. Mitten auf der Straße finden wir uns plötzlich in einem tiefgründigen Gespräch darüber wieder, wo und wie man das Glück findet. „Vielleicht in der Langsamkeit“, sage ich zu Mats, der in einem halben Jahr etwa so viele Kilometer gefahren ist, wie wir bis jetzt auf der gesamten Reise. Wir umarmen uns, steigen zurück auf unsere Sattel und wünschen uns gegenseitig eine glückliche Weiterreise.
Nach einer ruhigen Nacht mitten in einem alten Olivenhain krabbeln wir morgens aus dem Zelt. Die Wände sind tropfnass vom Tau. Weiter hinten, zwischen den knorrigen Bäumen, ist der Besitzer des Grundstücks bereits fleißig dabei, alte Äste aus den Olivenbäumen zu schneiden. Als er uns entdeckt, grüßt er freundlich und fragt besorgt, ob es nachts nicht zu kalt war.
Am Nachmittag, etwas erschöpft von den steilen Straßen, erreichen wir das kleine Bergdorf Yukarı Mazi. Am Anfang des Dorfes sehen wir am Straßenrand einen Stand aus alten Brettern, auf dem große Gläser mit Honig aufgereiht sind. Es gibt zwei Sorten: den dunklen, flüssigen Pinienhonig und den hellen, festen Wildblütenhonig. Wir lieben Honig und fühlen uns in der Türkei wie im Schlaraffenland. Hier ist der sogenannte berühmte Bal nicht nur ein Genuss, sondern auch ein fester Bestandteil der Kultur. Die Türkei gehört zu den ältesten Regionen der Welt, in denen Honig hergestellt wird. Schon in der Antike war Anatolien für seinen exquisiten Honig berühmt.
Wir halten an, um ein Glas zu kaufen. Sofort kommt der alte Imker im Laufschritt auf uns zu, öffnet voller Stolz und Freude eines der Gläser und bietet uns einen großen Löffel Honig zum Probieren an. Etwa 700 Gramm kosten 400 Lira, ungefähr elf Euro – nicht gerade ein Schnäppchen, aber der Honig schmeckt großartig. Ekrem, so heißt der Imker, ist klein und drahtig. Seine grauen Haare reichen bis zu den Schultern und sind etwas zerzaust vom Wind. Als wir das Honigglas in unserer Tasche verstauen, bittet uns Ekrem mit einem großen Lächeln im faltigen Gesicht, noch einen Tee mit ihm zu trinken. Dabei deutet er auf die kleine Hütte, die hinter ihm auf einer idyllischen Weide steht. Die Weide und der angrenzende Olivenhain sind von einer flachen Mauer aus lose übereinander gestapelten Felssteinen eingerahmt.
Ekrem freut sich riesig, als wir seiner Einladung folgen. Schnell legt er ein paar Kissen auf die winzige spartanische Holzbank vor der Hütte und bittet uns, Platz zu nehmen. Dann setzt er den schwarzen Tee an. Auf dem Nachbargrundstück sind sein alter Freund und dessen Sohn gerade bei der Olivenernte zugange. Mit einer langen Holzstange schlagen sie gegen die Äste, damit die reifen Oliven auf die Plane fallen, die unter dem Baum ausgebreitet wurde. Die späte Nachmittagssonne scheint auf unsere Gesichter. Der Ort ist so friedlich. Spontan fragen wir, ob wir unser Zelt für eine Nacht auf der Wiese aufstellen dürfen. Ekrem strahlt und es ist, als schaue man in das fröhliche Gesicht eines Kindes. Er legt seine rauen Hände auf’s Herz und gibt uns zu verstehen, dass es ihm eine Ehre sei. Während wir anfangen, das Zelt aufzubauen, schnappt sich Ekrem sein klappriges Fahrrad und düst damit wie ein Dorfjunge davon. Als er zurückkommt, packt er die Zutaten für ein leckeres Abendessen aus, das er in einer Pfanne auf dem kleinen Holzofen seiner Hütte zubereitet.
In sein winziges Zuhause passt alles, was Ekrem braucht: ein Bett, ein Ofen, ein Hocker, ein Regal. Bevor er eintritt, zieht er seine Schuhe aus. An der Wand hängen Kleidungsstücke, eine Flagge von Atatürk, Zettel mit persönlichen Notizen und ein Porträtfoto seiner Ehefrau. Sie lebt zwei Stunden entfernt in der Stadt Afyon und hatte großen Erfolg als Taekwondo-Sportlerin, erzählt Ekrem mit einem stolzen Lächeln. Dabei macht er eine Geste, die scherzhaft zeigt, dass man sich besser nicht mit ihr anlegen sollte. Micha und ich sind zunächst etwas verwirrt, denken, wir hätten etwas missverstanden – aber tatsächlich ist dieser Kampfsport in der Türkei sehr populär – sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Türkische Taekwondo-Sportlerinnen sind sogar bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften ganz vorne dabei.
Ekrem hat die Stadt, in der er einst mit seiner Familie lebte, vor einigen Jahren verlassen, um das Leben in der Natur zu suchen. Er wirkt glücklich und zufrieden in seinem kleinen Paradies. Wir sitzen noch den ganzen Abend zusammen und unterhalten uns mit Hilfe des Smartphones. Obwohl es etwas holprig ist, wenn man nicht dieselbe Sprache spricht, ist es ein Genuss, Ekrem zuzuhören. Die türkische Sprache ist sehr fantasievoll und drückt viele Dinge poetisch aus. Ekrem nutzt ganz selbstverständlich Metaphern, wenn er erzählt.
Er macht sich Sorgen, dass es nachts im Zelt zu kalt für uns werden könnte, doch wir beruhigen ihn. Fürsorglich legt er mir eine Wolljacke über die Schultern. Seine Gastfreundschaft kommt aus tiefstem Herzen und wir haben ihn schnell lieb gewonnen. Begegnungen wie diese berühren uns jedes Mal aufs Neue und bleiben für uns unvergesslich.
Als wir uns am nächsten Morgen nach einem leckeren Honigfrühstück verabschieden müssen, drücken wir Ekrem ganz fest. Wir steigen auf die Fahrräder und sehen, wie sich Ekrem Tränen aus dem Gesicht wischt. Er versucht noch, uns das Geld für das Glas Honig zuzustecken, was absolut nicht in Frage kommt. Noch eine ganze Weile denke ich über die Begegnung nach. Es wäre schön, wenn jeder ein bisschen von Ekrem in sich tragen würde.
13. Dezember 2024. Wir sind in Bodrum angekommen und haben damit das andere Ende der Südküste erreicht. Die alte Hafenstadt ist bekannt für ihre zahlreichen weißen, flachen Häuser, die sich an die Hügel schmiegen, durchzogen von einem Labyrinth aus engen Straßen und verwinkelten Gassen. Am Hafen ragt neben Palmen ein großer, künstlicher Weihnachtsbaum in den blauen Himmel und erinnert uns daran, dass zuhause gerade Adventszeit ist. Aber nach Weihnachten fühlt es sich nicht an. Es hat für uns wenig Sinn, das Fest so weit weg von zu Hause zu feiern.
Für zwei Tage stoßen Laura und Pierre aus Frankreich mit ihren zwei kleinen Töchtern zu uns – ebenso wie Antoine. Alle sind, genau wie wir, längere Zeit mit Fahrrädern unterwegs. In unserem kleinen Apartment in der Altstadt verbringen wir zwei schöne Kochabende zusammen. Kurz vor Weihnachten brechen alle wieder auf: Laura und Pierre setzen ihre Reise in Richtung Griechenland fort. Micha und ich schlagen Kurs Richtung Norden ein.
Nach zwei Tagen erreichen wir den von Bergen umringten Bafa-See. Der See ist heute ein Naturschutzgebiet. Ursprünglich war er Teil des antiken Meeres, das sich im Laufe der Jahrhunderte durch Sedimente und sinkenden Wasserpegel immer weiter zurückgezogen hat. Wir halten an einem Bauernhof an, der direkt am Ufer liegt. Das Wetter wird regnerisch, kalt und ungemütlich. Ein älteres Ehepaar, das hier ein einfaches Restaurant auf einem großen Holzsteg betreibt, bietet uns in einem Nebengebäude ein Gästezimmer mit Holzofen an. Es ist schlicht und altmodisch. Micha muss erst ein paar dicke Spinnen hinter den Gardinen einsammeln. Doch sobald das Feuer im Ofen lodert und die Wärme die klamme Kälte vertreibt, ist es ganz gemütlich. Draußen hängt der Duft aus dem Kuhstall in der Luft. Im Sommer zieht der See viele Besucher an, die hier frischen Fisch und die Produkte vom Hof genießen. Doch im Winter ist es still und einsam. Das Bauernpaar arbeitet von früh bis spät auf dem Hof und bleibt meist für sich. Drei Verwandte helfen ihnen im Stall und auf den Olivenhainen. Am Heiligabend regnet es ununterbrochen. Grau und still liegt der große See liegt da, kaum zu unterscheiden vom Himmel darüber. Im Regen flitzen wir über den Hof und fragen den Bauern nach zwei Gläsern Raki. Damit stoßen wir auf Weihnachten an.
Nach drei Tagen ist der Himmel klar und wir machen uns wieder auf den Weg. Unser Ziel ist die nächste Stadt: Söke. Dort steigen wir einen Tag später in den Bus nach Istanbul, wo wir das neue Jahr begrüßen und uns langsam vom asiatischen Kontinent verabschieden wollen – am legendären Bosporus, wo Asien auf Europa trifft.