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Zu Gast in Ostanatolien (1): Berg- und Talfahrt zum Vansee

Es ist bereits das dritte Mal, dass wir die Türkei bereisen. Dieses Mal nicht auf alten Motorrädern, sondern vor allem aus eigener Kraft. Und dazu noch durch ein Gebiet, das extrem bergig ist: Ostanatolien. Der am dünnsten besiedelte Teil der Türkei liegt durchschnittlich etwa zweitausend Meter über Meeresniveau. Daher können wir dort den Hochsommer klimatisch vermutlich am ehesten überstehen. Dachten wir. Zum Glück werden Micha und ich in den nächsten Wochen auf unzählige Menschen treffen, deren bedingungslose Gastfreundschaft und Hilfe uns oft gerettet haben, als wir kaum noch Energie hatten.

25. Juli 2023, 22:15 Uhr. Es ist längst dunkel und wir steigen aus den bequemen Mercedes-Bus, der uns vom schwülheißen Mersin nach Kayseri gebracht hat. Der Ort liegt mit 1.054 Metern nicht besonders hoch, aber weit weg vom Meer und sobald die Sonne untergeht, kühlt die trockene Umgebung angenehm ab. Ich nehme genüsslich einen tiefen Atemzug von der neunzehn Grad kalten Luft – endlich können wir wieder durchatmen.
Der Busbahnhof liegt wie so oft am äußersten Stadtrand. Wir radeln noch zehn Kilometer ins Zentrum bis zum Hotel. Kayseri ist angenehm weitläufig angelegt und um diese Zeit sind die breiten Straßen fast leer. Auf dem Fahrrad merke ich, dass mein Körper unbedingt ein paar Tage Pause braucht. Der kühle Fahrtwind der Nacht wirkt bereits wie eine langersehnte Dusche auf der Haut.
Am nächsten Morgen erblicken wir beim Gang zum Brotbäcker eines der Wahrzeichen der Stadt. Am Horizont thront der Vulkanberg Erciyes Dağı, auf dessen fast 4.000 Meter hohen Spitze Schnee liegt. Kayseri ist eine geschäftige und trotzdem entspannte Großstadt mit grünen Parks, einem Mix aus schicken und älteren Läden, drei Universitäten sowie mittendrin einer alten Burg, deren Innenhof zu einem modernen Platz umgebaut wurde. Wie es der Zufall will, wird heute Abend genau hier Gürkan Genç, 43 Jahre alt, einen kleinen Vortrag halten. Er ist der erste Türke, der die Welt mit dem Fahrrad bereist hat und darauf sind viele seiner Landsleute stolz. In den letzten zehn Jahren war er durchgehend unterwegs und hat dabei 120.000 Kilometer zurückgelegt. In der überschaubaren türkischen Radfahrerszene ist Gürkan ein Star. Aktuell radelt er durch sein Heimatland, um vor allem junge Menschen fürs Radfahren zu begeistern. Parallel macht er sich dafür stark, die Türkei fahrradfreundlicher zu machen. Als wir ihn bei seinem Vortrag besuchen, bietet er uns an, sich am nächsten Morgen zum Frühstück zu treffen und in Ruhe zu plaudern, bevor er weiter muss. Um so ärgerlicher, dass ausgerechnet an dem Morgen mein Kreislauf streikt. Mir geht es wirklich schlecht und ich kann mich kaum auf den Beinen halten. Darum verpassen wir leider ein mit Sicherheit sehr spannendes Gespräch.
Kayseri wirkt auf uns ziemlich modern. Auf der anderen Seite kämpfen die Menschen in der Türkei gerade mit einer massiven Inflation. Die Preise im August sind fast 60 Prozent höher als vor einem Jahr. Vor allem in den ländlichen Regionen, die wir in den nächsten Wochen bereisen werden, sind viele um ihre Zukunft besorgt.
Nach fünf Tagen in Kayseri haben wir uns sehr gut erholt, decken uns mit Trockenobst, Nüssen sowie Kayseri`s berühmten luftgetrockneten Rinderschinken (Pastırma) ein und steigen in gepolsterten Radlerhosen zurück auf die harten Sattel. Es kribbelt richtig im Bauch, als es morgens losgeht. In den letzten vier Wochen saßen wir wenig auf dem Rad – jetzt freuen wir uns auf die Zeit in Ostanatolien. Zunächst soll es möglichst über kleine Straßen und Dörfer bis an den Vansee gehen. Der größte See der Türkei liegt umringt von Bergen auf etwa 1.700 Metern und ist sieben mal größer als der Bodensee. Laut der App Komoot, mit der wir abschnittweise die Route planen, haben wir bis ans Ufer des Sees rund 800 Kilometer und 10.000 Höhenmeter vor uns. Dass wir mittendrin etwas umplanen müssen, können wir nicht ahnen.
Wie seit Wochen scheint auch am Tag unserer Abreise aus Kayseri die Sonne. Es ist warm, aber nicht zu heiß. Nach 25 Kilometern – kurz vor dem Dorf Ağırnas, wo wir das Geburtshaus des berühmten osmanischen Architekten Sinan besuchen werden – fallen uns plötzlich zwei andere Reiseräder ins Auge. Sie stehen bepackt hinter dem Zaun eines alleinstehenden Hauses an der Straße. Es sind die Räder von Sophie und Edu, die seit April ebenfalls quer durch Asien reisen, um nach ihrem Studium in Rostock den Kopf freizukriegen (Instagram: thinklesscyclemore). Sie sitzen gerade mit einem älteren Ehepaar auf der Veranda und frühstücken, nachdem sie spontan bei ihnen übernachten durften. Die Begegnung mit anderen Reisenden ist immer eine spannende und freudige Abwechslung – vor allem, wenn es selten vorkommt wie in diesem Teil der Türkei. Wo kommen sie her? Was haben sie vor? Welche Route haben sie schon hinter sich? Sofort wird los erzählt. Am nächsten Tag treffen wir die beiden dann auf der Strecke wieder und radeln ein Stück zusammen über die hügeligen Landstraßen. Es gibt wenig Verkehr und jedes Fahrzeug fährt sehr rücksichtsvoll an uns vorbei. Sie hupen öfter mal – zur Warnung oder als Gruß. Manchmal wird auch gestoppt – aus Neugier oder um einen Snack zu verschenken. Tagsüber klettert das Thermometer derzeit auf max. 35 Grad. Zum Glück weht ein angenehmer Wind, der das Fahren in der Sonne erträglich macht. In den Dörfern auf der Strecke gibt es kaum Möglichkeiten, Lebensmittel einzukaufen. Dafür plätschert in jedem Örtchen kaltes Quellwasser in ein kleines Steinbecken. Hier können wir Trinkwasser auffüllen und den salzigen Schweiß aus dem Gesicht waschen.
Am frühen Abend biegen Edu, Sophie, Micha und ich kurz hinter dem Örtchen Hilmiye in einen Schotterweg ab, der mitten durch ein einsames Tal führt. Das Sonnenlicht scheint sanfter. Zwischen den hellbraunen Hügeln und grünen Weidekoppeln treiben zwei reitende Hirten im Galopp ihre Kühe zusammen. Es ist ein Tal wie aus dem Bilderbuch in dem wir bald einen traumhaften Platz für die Zelte finden. Wir übernachten auf einer abgemähten Wildwiese im Schatten von Bäumen. Es gibt in der Nähe sogar ein Wasserloch für eine erfrischende Freiluftdusche. Als wir das Abendessen vorbereiten, kommt ein älterer Bauer auf seinem Traktor vorbei, um uns mit einem Lächeln willkommen zu heißen. Er stellt sich als Tscherkesse vor. Ursprünglich im Nordkaukasus beheimatet wurden einst viele muslimische Tscherkessen vertrieben und leben heute zum Großteil in der Türkei – wie hier in den Dörfern um Hilmiye. Ostanatolien ist aus seiner Geschichte heraus das Zuhause vieler ethnischer Gruppen und bei jeder Begegnung mit den Menschen weisen sie meist recht schnell und stolz auf ihre Identität hin.


Wir vier sitzen an diesem friedlichen, kühlen Abend sauber, satt und zufrieden noch eine Weile zusammen und beobachten, wie am Horizont der Mond aufgeht. Er schiebt sich riesengroß und in einem tiefen Orange langsam über die schwarze Silhouette der Berge. Mitten in der Nacht treiben dann Hirten mit Hilfe bellender Kangalhunde eine große Herde blökender Schafe an unseren Zelten vorbei. Müde vom Radfahren stört uns das allerdings wenig.
Nach der morgendlichen Zusammenpackroutine, die trotz aller Übung etwa eine Stunde dauert, führt ein grauer Schotterweg nach zehn Kilometern auf und ab ins Dorf Serefiye, wo wir eine Frühstückspause einlegen. Es gibt Haferflocken, Trockenobst sowie Nüsse vermischt in Orangensaft. Kurz danach trennen sich unsere Wege auch schon wieder: Edu und Sophie wollen südlich in die Stadt Gürün weiter radeln. Micha und ich entscheiden, weiter nördlich durch die Dörfer zu fahren. Weil unsere Vorräte langsam aufgebraucht sind, schenken uns die Zwei zum Abschied eine Dose Thunfisch. Kaum zu glauben, wie sehr wir uns darüber freuen. Auf Reisen können kleinste Dinge für große Glücksgefühle sorgen. Jeden Abend fragen wir gegenseitig: Welche drei Momente haben uns heute glücklich gemacht? Micha und ich müssen nie lange überlegen.
Unser Weg führt weiter durch eine karge, hellerdige Hügellandschaft an vielen Feldern vorbei, die oft künstlich bewässert werden müssen. Das gelbe dichte Getreide steht kurz vor der Ernte. Die Dörfer der Bauern, die die Felder bewirtschaften, sind nicht selten eine lose Ansammlung weniger Häuser. In jeder Dorfmitte steht eine kleine Moschee, deren schlankes Minarett herausragt. Auf den sandigen Straßen liegen dunkle Köttel von Ziegen und Schafen, die früh am Morgen geduldig auf die von der Sommersonne mittlerweile ausgedorrten Weideflächen getrieben werden. Im Ort stehen Traktoren und landwirtschaftliche Geräte herum, die die Bauern wahrscheinlich gemeinsam nutzen.
Sobald wir in einem der Dörfer anhalten, um Trinkwasser aufzufüllen, dauert es meist nicht lange und jemand winkt uns mit eindeutiger Geste zum Tee heran. Wenn wir der Einladung folgen und den Leuten erzählen, dass wir aus Deutschland hierher geradelt sind, ist es schön zu sehen, wie erstaunt sie sind – und wie glücklich, dass wir es bis in ihr Dorf geschafft haben. Dank Übersetzungsapp erfahren wir immer auch ein bisschen von ihrem so anderen Leben. Und während dessen bieten uns die Leute gerne regionale Leckereien an: frischer Ayran, selbst gebackenes Fladenbrot, salziger Schafskäse, Eier, Oliven, Gurken und Tomaten. Manchmal sogar triefende Honigwaben. Das alles schmeckt unheimlich gut und liefert Energie für die nächsten Kilometer – vor allem auch, weil es von Herzen kommt.
Am fünften Tag nach unserer Abfahrt aus Kayseri müssen wir kurz hinter dem Dorf Eski Hamal vormittags erstmals einen Pass überqueren. Der schottrige Weg ist schön einsam, aber ziemlich steil. Etwa zwanzig Kilometer strampeln und teils schieben Micha und ich die Berge hinauf. Mittlerweile steht die Sonne oben und scheint grellheiß auf uns nieder. Der einzige Schatten auf dem Weg stammt von uns selbst und der Anstieg zieeeeht sich in die Länge. Außerdem quälen uns immer wieder die fiesen Stiche von Wadenbeißern – so wird die Gemeine Stechfliege genannt, die wie eine normale Stubenfliege daher kommt und Blut aus unseren Knöcheln und Waden zapft.
Als wir endlich am Pass ankommen, ist mein Akku leer. Der weite Ausblick auf die neue Landschaft mit plötzlich rostroten und türkisgrauen Bergketten ist fantastisch, aber ich bin gerade zu müde, um das zu genießen. Wir stellen die Räder vor dieses Panorama und spannen für etwas Schatten die Zeltplane dazwischen. Es dauert nicht lange und ich schlafe darunter ein. Micha wartet geduldig, bis ich nach über zwei Stunden wieder meine Augen öffne. Jetzt sind wir bereit für den schönen Teil des Tages: die Abfahrt ins Tal.


Wir haben die Provinz Malatya erreicht und jetzt kommen wir an immer mehr Obstplantagen vorbei. Es sind Bäume voller gelber Aprikosen und die Ernte ist gerade in vollem Gange. Malatya ist berühmt für seine Aprikosen, die in dieser Umgebung besonders gut gedeihen. Fast jede getrocknete Aprikose, die auf dem europäischen Markt gehandelt wird, soll aus dieser Region stammen. Die Türkei steht hier an der Spitze der Weltproduktion.
Wir versuchen in Flussnähe ein gutes Plätzchen für die Nacht zu finden. Vorher radeln wir noch zwei Kilometer nach Kuluncak – in dem größeren Dorf gibt es gleich mehrere Geschäfte und wir sacken endlich wieder eine Ladung Lebensmittel ein. Als wir uns danach noch in den schattigen Garten eines kleinen Kebap-Restaurants setzen, gabeln uns Neijla und ihr Mann Ali auf. Sie leben mit ihren zwei Söhnen seit vielen Jahren in Innsbruck, wo Ali eine Autowerkstatt mit mehreren Angestellten betreibt. Wie viele andere ausgewanderte Landsleute nehmen sie jeden Sommer eine lange Autofahrt in Kauf, um ihre Verwandten in der alten Heimat zu besuchen.
Plötzlich sitzen Micha und ich auf ihrem bequemen Sofa im Wohnzimmer. Es ist eine schöne helle Wohnung, die Neijla und Ali für ihre Sommerbesuche angeschafft haben. Die unkomplizierte und fröhliche Art der beiden entspannt uns. Neijlas ältere Schwester Yüksel mit Ehemann Elyaz kommen auch noch vorbei, um uns zu begrüßen. Sie waren bis zum Erdbeben im vergangenen Februar in der 130 Kilometer entfernten Großstadt Malatya zuhause. Bei der Katastrophe haben sie dort alles verloren und leben seitdem wieder in Kuluncak. Geduldig übersetzt Ali all unsere Gespräche. Die große Familie sind stolze Aleviten – eine religiös-kulturelle Minderheit in der Türkei mit liberalen muslimischen Traditionen. Verhüllte Frauen gibt es nicht. Es werden auch keine Moscheen besucht. Aleviten glauben in erster Linie an den großen Wert guter zwischenmenschlicher Beziehungen. Und genau das ist es, was die ganze Familie ausstrahlt.
Am nächsten Tag machen wir einen Ausflug auf die Aprikosenfarm von Neijlas Eltern. Dort treffen wir auch den 84-jährigen Baba, der während der gesamten Erntezeit in einer Datsche auf der Farm wohnt und täglich mithilft. Über 700 Bäume voll mit Früchten müssen abgeerntet werden. Die reifen Aprikosen werden auf Planen in der Sonne ausgelegt, später von Hand entkernt und nochmals ausgelegt. Wir helfen ein wenig mit. Die ganze Familie ist zwei bis drei Monate mit dieser Arbeit beschäftigt.
Am nächsten Morgen umarmen wir unsere lieb gewonnenen Gastgeber und müssen ein paar Tage durch eine tiefere Ebene radeln. Die Temperaturen sind mit 40 bis 45 Grad plötzlich wieder unerträglich. Über das ganze Land rollt eine ungewöhnliche Hitzewelle, die uns spätestens ab elf Uhr zu einer langen Pause in den Schatten zwingt. Ich lege ein nasses Handtuch auf meinen Kopf. Die Sonne kann so erschöpfend sein. Als wir es nahe Şişme zum Abend hin bis an einen kühlen Flusslauf schaffen, dreht sich mein Kopf nur noch um eins: Wie können wir dieser Hitze entkommen? Ich spüle im Fluss grob die weißen Salzränder aus den Klamotten. An meinem Hintern haben sich vom Schweiß zwei kleine Eiterbeulen gebildet, die auf dem Sattel ziemlich weh tun. Vor dem Einschlafen beschließen Micha und ich, uns am nächsten Morgen an die fünf Kilometer entfernte Schnellstraße zu stellen, um nach Elazig zu trampen. Es dauert nur ein paar Minuten, bis uns ein LKW-Fahrer die erste Hälfte der Strecke mitnimmt – 40 Kilometer bergauf. Danach dauert es mehrere Tage, bis ich wieder richtig sitzen kann.


Um der anhaltenden Hitze zu entkommen, planen wir einen Abstecher nach Norden ein und steigen in Elazig mit den Fahrrädern in den Bus nach Erzurum. Die kurdische Stadt liegt mit 1.950 Metern fast doppelt so hoch wie Elazig und hat ein deutlich angenehmeres Klima. Erzurum ist aber nicht nur deshalb einen Abstecher wert. Es tut einfach richtig gut, in frischer Morgenluft durch den Ort spazieren zu können. Dabei entdecken wir mehrere Gebäude einer alten Zeit: Medressen, Moscheen, Grabtürme, alte Wohnhäuser sowie die Burganlage auf dem Hügel der Altstadt. Dazwischen passiert der Alltag der Menschen, die uns immer wieder stolz darauf hinweisen, dass wir in Kurdistan und herzlich willkommen sind. Darunter Ladenbesitzer, Teppichhändler, Brotbäcker, Blechschmiedemeister, Schuster, Teestuben- und Restaurantbesitzer.
Das Radeln zum Vansee geht weiter und verläuft zunächst südlich den türkisgrünen Aras-Fluss entlang. Wir werden überrascht von einem herrlichen Tal mit eindrucksvollen Felsformationen. Außerdem lieben wir es, am Ufer von Flüssen das Zelt aufzustellen. Man kann sich erfrischen und beim Rauschen des Wassers friedlich einschlafen.
Zwei Tage später, als wir nahe des Dorfes Başkent wieder einen Fluss finden, an dem ich gerade das Zelt auspacke, werden wir von Mehmet entdeckt. Er warnt uns vor Wölfen sowie Bären, die nachts aus den Bergen manchmal bis ans Dorf herankommen. Mehmet, der mit seiner Frau Kibar gerade Ferien im Haus seines verstorbenen Vaters macht, begrüßt uns auf Deutsch. Beide sind schon vor vielen Jahren nach Deutschland ausgewandert, vor allem ihrer sechs Kinder zuliebe, und leben heute als Rentner in München. Die erwachsenen Kinder arbeiten mittlerweile in angesehenen Berufen – an verschiedensten Orten in Deutschland und Frankreich.
Mehmet lädt uns ein, die Nacht in seinem Haus zu bleiben: „Bitte seid wie zuhause. Heute bin ich euer Baba. Und ihr seid meine Kinder.“ Das Haus ist spartanisch eingerichtet, aber es gibt alles, was man braucht. Wir sitzen draußen an einem Plastiktisch beim Abendessen und schauen von hier auf die Obstbäume im Garten. Gespannt hören wir zu, als Mehmet aus seinem Leben erzählt. Er tut das auf eine liebevolle und dankbare Art, so als wäre sein Leben nicht hart gewesen. Nach dem Essen genießen wir eine Dusche, dürfen sogar die Waschmaschine nutzen und schlafen nach einem letzten Blick auf den hellen Mond selig auf dem Gästesofa ein. Mehmet klappt noch vorsichtig von außen die Läden an die Fenster. Dann gehen Kibar und er ebenfalls ins Bett.



Von Başkent aus kommen wir nach einem Zwischenstopp in Muş in der Kleinstadt Tatvan an und haben damit endlich den großen Vansee und sein schönes Panorama erreicht. Wir steuern etwas außerhalb der Stadt einen kleinen Campingplatz direkt am See an. Auf dem Weg dorthin weht uns der frische Seewind um die Nase, in den sich kurz darauf ein moderiger Gestank mischt. Das liegt vielleicht an dem herumliegenden Verpackungsmüll in Ufernähe, was generell leider immer wieder zu sehen ist.
Auf dem Campingplatz, der eigentlich vor allem ein Bade- und Picknickplatz für Tagesgäste ist, wird der Müll täglich eingesammelt. Das Wasser des Vansees sieht recht sauber aus. Es fühlt sich ungewöhnlich weich an, fast etwas ölig. Denn das Wasser ist naturgemäß mit Soda und Salzen angereichert. Der Vansee gilt als tiefster Sodasee der Welt. Später lesen wir im Internet, dass die Probleme des Sees gerade alarmierend sind. Immer noch fließen die Abwässer von mehr als einer Million Menschen oft ungefiltert in den See. Dazu kommen die Folgen des Klimawandels – derzeit verdunstet hier dreimal mehr Wasser, als vom Regen zurückkommt.
Wir haben die leise Hoffnung, auf dem Campingplatz vielleicht auch andere Reisende zu treffen. Denn irgendwie vermissen wir es, sich mal wieder in Ruhe mit Gleichgesinnten auszutauschen. Tatsächlich entdecken wir beim Ankommen im zarten Schatten der Bäume inmitten der vielen Picknick-Nischen das Reisemotorrad von Josch aus Duisburg. Abends kommen dann sogar noch zwei weitere Bikerfreunde von Josch dazu: Marco und Tania aus Luxemburg/Portugal mit Hündchen Spike im Gepäck. Bevor die Drei zusammen in den Iran weiterdüsen, verbringen wir gemeinsam ein paar Tage auf dem Platz und tauschen alle möglichen Reise- und Lebensgeschichten aus. Tania, Marco und Josch sind extrem angenehme, unkomplizierte Menschen und wir genießen die Zeit mit ihnen. Um uns herum füllt sich der Platz jeden Tag mit immer anderen Familien, die genüsslich und entspannt baden, picknicken und den Grill anfeuern. Jetzt im Sommer kommen zum Beispiel viele Urlauber aus dem Südosten des Landes an den See. Neugierig beäugen sie unsere kleine Touristentruppe und wir werden freundlich mit vielen Leckereien verwöhnt. Ab und zu ertönt kurdische Musik und dann tanzen wir ausgelassen mit den Leuten um ihren Picknickteppich herum. Um 18 Uhr verschwinden alle Tagesgäste wieder und es kehrt Ruhe ein. Ab halb acht geht dann die Sonne unter und die Luft am Vansee kühlt herrlich bis auf Gänsehauttemperatur ab.
Zusammen mit Josch machen wir am letzten Tag noch einen Ausflug hoch in den riesigen Vulkankrater des nahegelegenen Nemrut Dağı. Die nette kurdische Großfamilie, die den Platz betreibt, leiht uns für etwas Geld ihr Auto. Die Landschaft im Krater, die Weite und Stille dort oben sind unglaublich schön. Es gibt einen großen See, ringsum etwas Wald und eine gepflasterte Straße, die über eine beeindruckende Hügellandschaft bis an den See hinunterführt. Dort treffen wir am Straßenrand dann sogar Braunbären, die hier seit einigen Jahren leben und an Besucher gewöhnt sind. Nie zuvor haben Micha und ich Bären in freier Natur gesehen.


Als wir morgens das zugestaubte Zelt zusammenpacken und Goodbye sagen wollen, grollt ein kurzes Gewitter über den See. Erstmals seit vielen Wochen regnet es. Die dunklen Wolken werden uns auf dem Rad noch bis zum Abend begleiten, aber nass werden wir zum Glück nicht. Auf der breiten Straße nach Ahlat am nordwestlichen Ufer des Sees entlang stehen dann 4.000 Kilometer auf dem Fahrradtacho. Kurz danach biegen wir nach Norden ab und verlassen den Vansee wieder. Die Reise durch Ostanatolien geht weiter und die Schönheit der Berglandschaft wird sich nochmal steigern. Da die letzten Wochen körperlich sehr anstrengend waren, kommen allerdings auch bald erste zarte Zweifel auf, ob wir genauso weiterreisen wollen.

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