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Zu Gast in Ostanatolien (2): Durch Kurdistan zum Kaukasus

29. August 2023. Nach einer Frühstückspause in Ahlat mit Tschai, Brot und Schafskäse liegt ein fast dreißig Kilometer langer, hoher Anstieg vor uns. Dank der Regenwolken, die die ganze Region um den Vansee verdunkeln, ist es heute nicht heiß und wir sind innerlich bereit für die Etappe. Kurz hinter der Stadt, als die Straße gerade steil nach Norden abbiegt, stoppt ein kleiner Lastwagen neben uns: „Where you from?“ ruft Beifahrer Mersach begeistert aus dem Fenster. Er und der etwas ältere Fahrer deuten gestikulierend eine mühsame Bergfahrt an. Für sie ist es gar keine Frage, uns ein Stück mitzunehmen. Überrumpelt von ihrem eifrigen Angebot nicken wir einfach die Köpfe. Ruckzuck klappen die zwei Männer die Ladefläche auf und helfen, die Fahrräder aufzuladen. Micha und ich sitzen in nur wenigen Minuten zwischen die Beiden gequetscht im Fahrerhäuschen. Alle haben ein breites Grinsen im Gesicht. Mersach und Micha tauschen sich auf der Fahrt angeregt über die Fragen aus, die immer wieder neugierig gestellt werden. Wo wir herkommen. Wohin wir wollen. Wo wir übernachten. Ob uns Kurdistan gefällt. Ich gucke durch die Windschutzscheibe auf die weite Berglandschaft, während der Lastwagen die Kurven schneidet. Statt mit 5 Kilometern pro Stunde geht es wie im Flug über den Pass.
Im Dorf Adaksu angekommen, krabbeln wir wieder aus dem Wagen. Vorher wird noch der Instagramkontakt ausgetauscht. Dann radeln wir gut gelaunt weiter bis Malazgirt – dreißig Kilometer leicht bergab. An dem historisch wichtigen Ort hatten türkische Seldschuken vor 952 Jahren die Byzantiner in einer Schlacht besiegt und damit die Ansiedlung der Türken in Anatolien eingeläutet.
Der Himmel ist immer noch bedeckt, als wir in die Kleinstadt einrollen. Erst fahren wir an Bauernhäusern vorbei – verbunden durch dunkelerdige Wege, über die das Vieh zum Weiden auf die Steppe getrieben wird. Eine Schar aufgeregter Gänse läuft schnatternd vor unsere Fahrräder und über die breite Straße. Malazgirt hat nichts Hübsches an sich – alles ein bisschen durcheinander gebaut, teils marode und trotzdem hat alles seinen Platz. In der lebhaften Ortsmitte halten wir an einem kleinen Café an, um uns einen Überblick zu verschaffen. Das einzig nennenswerte Hotel liegt gleich um die Ecke, ruft allerdings einen viel zu hohen Preis auf. Daher fahren wir zur alten Burg, wo es einen Picknickplatz geben soll. Um auf den begrünten Hof der Burg mit Blick über die Stadt zu kommen, müssen wir die Räder und Taschen eine steile Steintreppe hochtragen. Oben gibt es ein Teehaus und der Besitzer erlaubt uns ohne zögern, auf dem grünen Gelände zu übernachten. Obwohl er etwas scheu ist, kümmert er sich rührend um uns. Als es dunkel ist und wir bereits im Zelt liegen, reicht er uns noch zwei kleine Becher Kaffee hinein mit einem herzlichen „Good Morning“, womit er natürlich gute Nacht meint. Dann löscht er alle Lichter am Teehaus, schließt die Türen und verschwindet bis zum Morgen.

Der nächste Tag wird sehr anstrengend – es geht viel bergauf und die Hitze der Sonne ist zurück. Die Strecke führt durch mehrere kleine Dörfer mit Namen wie Hasanpașa oder Karaağaç. Das Gebiet ist paramilitärisch bewacht und in einem der Ortschaften stoppt uns ein Patrouillewagen der Gendarmerie. Sie checken die Ausweise und lassen uns weiterziehen. Die Dorfbewohner begegnen uns wie überall äußerst freundlich. Daher machen wir uns keine Sorgen. Beim letzten Drittel der Tagesroute müssen wir auf einer ruppigen Schotterstraße über die Berge fahren. Das kostet Kraft. Ab und zu donnern kleine Lastwagen vorbei und lassen uns oft gnadenlos in einer Staubwolke zurück. Sie transportieren hinten auf einer zweistöckigen Pritsche Schafe. So siedeln sie ganze Herden auf andere Weideflächen um. Als wir am späten Nachmittag wieder auf Asphalt zusteuern, haben wir eigentlich genug für heute. „Ich sehe was, was du nicht siehst!“ höre ich Micha von hinten rufen. Sein Finger zeigt in die Ferne auf die Straße nach Tutak, die supersteil und schnurstracks über einen Berg führt und von der späten Nachmittagssonne angeleuchtet wird. Wir beide müssen lachen. Keiner hat mehr Energie, das heute noch hinter sich zu bringen. An einer Tränke mit frischer Quelle waschen wir müde den Schweiß und Staub aus den Gesichtern sowie von den Beinen. Als wir halbwegs sauber sind, stoppt ein alter Transporter neben uns. Es ist wieder die Gendarmerie, diesmal mit drei jungen Uniformierten an Bord. Der Beifahrer steigt zügig aus – ein großer, schlanker Typ. Freundlich will er wissen, wie er helfen kann. Wir fragen, ob er uns eventuell in den nächsten Ort mitnehmen könne – nach Tutak. Die Freude auf beiden Seiten ist groß. Zusammen mit seinen Kameraden verfrachten wir die Fahrräder zwischen die hinteren Sitzreihen. Dann lasse ich meinen schweren Körper in den durchgesessenen Sitz hinter dem Fahrer plumpsen. Micha lächelt mir zu. Neun Kilometer später in Tutak angekommen, lässt es sich der nette Gendarm nicht nehmen, uns noch zum Abendessen einzuladen. Satt und beseelt von der herzlichen Geste radeln wir danach stadtauswärts, wo wir am Muratfluss hinter Büschen schnell ein nettes Plätzchen für die Nacht finden.


Nach ein paar unaufgeregten Pausentagen in Ağrı erreichen wir am Ende eines herrlichen Fahrtags auf großteils neu asphaltierter Straße einen 2.430 Meter hohen Pass. Er bietet uns die allerschönste Aussicht unserer Reise durch Ostanatolien. Um das auszukosten, übernachten wir hier oben. Micha und ich platzieren das Zelt auf einem abgemähten Getreideacker hinter einer kleinen Erhebung, die uns von der Straße abschirmt. Von der weitläufigen Bergweide, auf die wir runterschauen, schallt das Kläffen der Hunde herüber, die jetzt am frühen Abend eine große Rinderherde zusammentreiben. Das scheint deutlich schwieriger zu sein, als bei Schafen und Ziegen. Manche Rinder muhen störrisch. Sie haben keine Lust, zurück ins Dorf zu traben. Irgendwann sind die Hirten und ihre Tiere von der Weide verschwunden. Es kehrt Stille ein. Nicht mal Wind weht und wir hören jetzt nur noch das Fauchen des Campingkochers, auf dem ein Topf Nudeln blubbert. Es ist der perfekte Platz, um diesen Tag ausklingen zu lassen. Während des Abendessens blicken wir auf den Abendhimmel und die einsame Bergkulisse. Die Luft kühlt angenehm ab. Nichts stört diesen besonderen Moment. Auch nicht die Autos, die vereinzelt über die Passstraße kommen.
Nach einer schnellen Dusche aus dem Wasserbeutel liegen wir tief zufrieden im Zelt. Nachts raschelt immer wieder irgendwas an der Zeltplane umher und weckt uns auf. Am Morgen zeigt sich dann der Störenfried: eine rührige, dicke Feldmaus, die erbost scheint, dass wir ihr Revier belagern.
Micha hat heute Geburtstag und er kann sich gerade keinen besseren Ort vorstellen, um aufzuwachen. Das Licht ist noch sanft und die Morgenluft herrlich kühl. Wir ziehen auf der Abfahrt vom Pass erstmals seit langem die gefütterten Jacken über. Der Weg ins Tal bietet uns so viele schöne Panoramen, dass wir ständig anhalten. Micha ist sehr glücklich und ich freue mich mit ihm. Auch das Dorf Duranlar, durch das wir kommen, ist eine malerische Oase in der sonst kargen Bergwelt. Die Häuser stehen zwischen saftig grünen Wiesen und vollen Obstbäumen. Hier und dort gibt es Türme aus Strohballen sowie große dunkelbraune Stapel aus getrockneten Kuhfladen. Sie kündigen das Ende des Sommers an. Da Bäume rar sind, wird in den langen, eisigen Wintern mit dem Kuhmist geheizt. Ich kann mir im Moment, wo die Sonne tagsüber noch so viel Kraft hat, die Region nur schwer unter einer Schneedecke vorstellen.
Es dauert nicht lange und wir sind wieder auf 1.500 Metern angekommen. Die Jacken haben wir längst zurückgepackt. Der Sonnenofen brennt. Das Thermometer am Fahrrad zeigt schon wieder vierzig Grad an. Nach etwa 25 Kilometern auf der grellen Landstraße machen wir einen Stopp kurz vor Kagizman. Nun steht ein 35 Kilometer langer Anstieg auf das Plateau von Kars bevor. Uns fehlt heute absolut die Lust auf diese Quälerei. Durstig halten wir neben einer verwaisten Tankstelle vor einer Teebaracke an. Der einzige Gast ist ein drahtiger, grauhaariger Trucker mit Schnurrbart. Er trägt Jeans, ein weißes Unterhemd und hat uns lässig beobachtet, als wir angefahren kamen. Wir genießen eine eiskalte Limo und kommen schnell mit ihm ins Gespräch. Als der Trucker seinen Tschai ausgetrunken hat, deutet er auf den gelben Scania-Lastwagen, der unbeladen auf dem Platz steht – bereit für seine Heimfahrt. Er gibt uns zu verstehen, dass er uns gerne bis auf das Plateau mitnehmen kann. Das perfekte Geburtstagsgeschenk, freut sich Micha.
„Ich bin Süleman,“ sagt der Trucker, als wir vorn in seinem bequemen LKW Platz genommen haben. Wenn mehr Leute Fahrrad fahren würden, wäre es nicht so heiß, gibt er uns zu verstehen. Dann lacht er und fährt zügig über die Landstraße. Je höher wir kommen, desto angenehmer wird der Fahrtwind, der durchs halboffene Fenster hineinweht und meine Haare übers Gesicht flattern lässt. Wir beide genießen diese Fahrt und freuen uns über Süleman, der einfach ein netter, cooler Typ ist.
An der Highwaykreuzung etwa siebzehn Kilometer vor Kars müssen wir auch schon wieder Goodbye sagen. Für Süleman geht es weiter an die Schwarzmeerküste. „Kommt doch einfach mit,“ sagt er. „Ich lade Euch zu mir nachhause ein.“ Dankend steckt Micha ihm etwas Spritgeld zu und dann fährt der gelbe LKW für immer ohne uns davon.


Zurück auf den Fahrrädern pustet uns ein kräftiger Rückenwind mit über 30 km/h bis nach Kars hinein. Kars ist für uns die hübscheste Kleinstadt, die wir auf der Reise durch Ostanatolien besuchen. In der Vergangenheit wurde sie immer wieder von Russland erobert und das zeigt sich auch an der Gestaltung der kleinen Innenstadt. Einige Straßen sind von charmanten, altrussischen Häusern gesäumt. Es gibt nette Cafés, Restaurants sowie unzählige Geschäfte mit großen Käselaiben, für die die Region bekannt ist. Eines der Karser Käserezepte wurde übrigens im 19. Jahrhundert von immigrierten Schweizer Käsemachern in die Region gebracht. Die meisten Urlauber kommen interessanter Weise nicht im Sommer, sondern im strengen Winter nach Kars, wenn es eisig und verschneit ist. Vielleicht auch wegen des Gänsebratens, für die die Stadt ebenfalls berühmt ist. Eines Abends spricht uns auf der Straße eine aufgeregte Truppe Berliner Jungs an, die gerade bei ihren kurdischen Verwandten zu Besuch sind. Sie hatten uns im Vorbeigehen sprechen gehört und konnten kaum glauben, hier auf Deutsche zu treffen. Und dann noch aus Berlin. Wir quatschen fast eine Stunde lang. Die Begegnung ist so herzlich und erfrischend, dass wir uns fragen, warum wir dafür erst tausende Kilometer reisen mussten. Wir versprechen gegenseitig, uns in Berlin wiederzusehen.
Nach einem kräftigen Gewitter in Kars schlägt das Wetter um. Endlich. Im Pullover geht’s zurück auf die Sattel in Richtung Kaukasus. Wie problemlos wir bei optimalen Temperaturen doch über die Berge radeln! Nach einer verregneten Nacht am schönen Çıldır-See auf zweitausend Metern Höhe sind es plötzlich nur noch zehn Grad am Tag. Ich ziehe ein Paar Socken über meine sonnengebräunten Füße, die es nicht mehr gewohnt sind, angezogen zu werden. Herbststimmung macht sich breit und ich genieße das total. So ist das Schlafen im Zelt wieder richtig gemütlich.


13. September 2023. Heute werden wir nach fünfzig Tagen die Türkei wieder verlassen. Das Land zählt mit Sicherheit (wieder mal) zu den Highlights unserer Reise. Es hat alles geboten, wonach unser Reiseherz sucht. Wir sagen tausend mal „Tescheküler“ und wünschen den Menschen von Herzen alles Gute.

Vom Çıldır-See aus sind es jetzt nur noch wenige Stunden bis zur georgischen Grenze, wo unsere Freunde Ani und Shotiko aus Tiflis mit dem Auto auf uns warten werden. Glücklich fallen wir uns am Grenzübergang in die Arme. Wir haben Ani vor fünfzehn Jahren auf unserer ersten langen Reise kennengelernt. Nun kommen Micha und ich das dritte Mal zu Besuch. In zwei Tagen wird ihre jüngere Tochter eingeschult. Außerdem feiern Ani und Shotiko ihren zehnten Hochzeitstag. Damit wir das nicht verpassen, geht es mit den Fahrrädern auf dem Autodach rasant in fünf Stunden über die georgischen Landstraßen zu ihnen nachhause. Eine Woche lang werden wir bei Anis Familie sein und dabei ihr kleines Haus am dörflichen Stadtrand, das Shotiko mit viel Fleiß über die Jahre aufgebaut hat, kaum verlassen. Ani spricht Deutsch und wir können stundenlang quatschen. Dabei bekommen wir neue Einblicke in ihren Alltag, der hat sich über die Jahre deutlich verändert. Auf der einen Seite ist das Leben in Tiflis viel moderner geworden. Auf der anderen Seite gibt es eine Menge gesellschaftlicher Probleme.
Die Feier mit Familie, Nachbarn und Freunden steht an. Dreißig Gäste müssen an der langen Tafel verköstigt werden. In Georgien bedeutet das, zwei Tage lang sehr viel Essen vorzubereiten: mit Käse gefüllte Fladenbrote, Auberginenröllchen, feine Pfannkuchen mit Hackfleisch, Kohlrouladen, Rindergulasch, Schaschlik vom Grill usw. Nach dem gemeinsamen Großeinkauf auf dem Basar helfen wir Ani und ihrer Mutter so gut es geht in der Küche. Jedes Gericht wird mit strenger Sorgfalt gekocht. Und alles schmeckt einfach nur köstlich. Dazu kommt beim Fest literweise georgischer Wein auf den Tisch, der vor allem durch die Kehlen der trinkfesten Männer rinnt. Die Feier wird traditionell von einem Trinkmeister am Kopf der Tafel begleitet – der sogenannte Tamada. Er sorgt für passende Trinksprüche, die mit jedem Glas Wein erhoben werden. Sie enthalten ausführliche Wünsche auf das Wohl und die Zukunft der verschiedenen Gäste. Zu allererst wird dabei immer auf die Familie angestoßen, die eingeladen hat. Dann folgen unzählige Weitere.

Mit mindestens zwei Kilogramm mehr auf den Rippen verabschieden wir uns am 21. September von unseren Freunden und fahren quer durch Tiflis nach Süden in Richtung armenische Grenze. Es ist der verkehrsreichste Fahrtag der bisherigen Reise. Nach 22 Kilometern durch den morgendlichen Großstadtverkehr müssen wir uns die einzige Landstraße nach Süden mit unendlich vielen Trucks und Autos teilen, die den ganzen Tag vorbeirauschen. Da es keinen Seitenstreifen gibt, gucke ich mehr in den Rückspiegel als nach vorn, um die Überholmanöver im Auge zu behalten. Ich bin froh, als wir nach etwa siebzig Kilometern von der lauten Straße abbiegen und auf einem grasigen Hügel einen geschützten Platz für eine ruhige Nacht finden. Jetzt ist es nur noch ein Katzensprung bis nach Armenien – ein Land nicht größer als das Bundesland Brandenburg, aber mit gewaltiger Berglandschaft, alten Steinklöstern und hoffentlich sonnigem Herbstwetter.

Ein Gedanke zu „Zu Gast in Ostanatolien (2): Durch Kurdistan zum Kaukasus“

  1. Hallo Suse u Micha!
    Habe jetzt erst mitbekommen, dass Ihr wieder unterwegs seit.Irmi u ich wünschen Euch weiterhin eine gute Reise, tolle Erlebnisse u immer nette Menschen.
    LG Irmi u Hans

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